Название: Handbuch Medizinrecht
Автор: Thomas Vollmöller
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: C.F. Müller Medizinrecht
isbn: 9783811492691
isbn:
6
Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist, dass die Einschränkung auf der Stufe vorgenommen werden muss, die die geringste Belastung für die Betroffenen zur Folge hat,[13] wobei dem Gesetzgeber ein erheblicher Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zugestanden wird („Einschätzungsprärogative“). Letztlich führt dies dazu, dass Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG gerade im Gesundheitswesen zu einem der meist überschätzten Grundrechte aus Betroffenensicht geworden ist. Hufen[14] weist zurecht darauf hin, dass das BVerfG seine in anderem Zusammenhang aufgestellten Schranken zum Schutz von Art. 12 Abs. 1 GG quasi mit einem Federstrich vom Tische fegt, wenn es im Rahmen sozialer Sicherungssystem um den Systemerhalt geht.[15] Allerdings gibt es hierfür vertretbare Argumente. Denn schließlich ist ein funktionierendes Sozialversicherungssystem eine der Grundvoraussetzungen für sozialen Frieden in einer Zivilgesellschaft. Sozialer Frieden wiederum ist Voraussetzung für freie Berufswahl und Berufsausübung. Die Mär des Arztes als „Freier Beruf“ ist aber zumindest im Rahmen der GKV längst als solche enttarnt,[16] so dass sogar Mitglieder des BVerfG[17] von einem staatlich gebundenen Beruf sprechen. Dennoch ist es vornehme Pflicht des prüfenden Anwalts, angesichts dieser Faktizität das Verfassungsrecht nicht einfach auszuklammern. Das Stufenprogramm des Art. 12 Abs. 1 GG muss bei einschlägigen Sachverhalten im Hintergrund immer mitlaufen. Der beratende Anwalt sollte sich allerdings davor hüten, Art. 12 Abs. 1 GG unkritisch wie eine Monstranz vor sich herzutragen; damit läuft er Gefahr, seine einfachrechtliche Argumentation zu entwerten. Maßgeblich dürfte sein, die – wenigen – Fallkonstellationen zu entdecken, in denen man auch in Kenntnis der Rechtsprechung von BSG, BVerwG und BVerfG mit Art. 12 Abs. 1 GG Pluspunkte sammeln kann. Hat man einen derartigen Fall, ist es nicht nur legitim, sondern geradezu geboten, schon von Anfang an die verfassungsrechtliche Dimension deutlich zu machen.
7
Wie vielfältig einschränkbar Art. 12 Abs. 1 GG ist, wenn Gemeinwohlinteressen berührt werden, zeigt die Rechtsprechung der vergangenen Jahre: Bedarfsplanung verfassungsrechtlich zulässig;[18] bessere Ressourcensteuerung kann Abrechnungsbeschränkung technischer Leistungen in der GKV rechtfertigen,[19] auch wenn berufsrechtlich die Leistung (noch) zum Gebiet des ausgeschlossenen Fachs gehört;[20] Altersgrenze 68 zulässig;[21] für 68er Grenze und § 95 VII SGB V auch Zeiten als ermächtigter niedergelassener Psychotherapeut anzurechnen;[22] Altersgrenze 55 zulässig;[23] ausreichend ist Zulassungsantrag vor Vollendung des 55. Lebensjahres.[24] Wie kritisch derartige Regelungen zu betrachten sind, sieht man darin, wie der Gesetzgeber mit einem Federstrich die 55-Jahresgrenze im Rahmen des GKV-WSG[25] ersatzlos gestrichen hat. Ähnlichen Zweifeln begegnete auch die 68-Jahresgrenze. War doch für ihre Rechtfertigung auf eine funktionierende Bedarfsplanung Bezug genommen worden.[26] Wird aber die Bedarfsplanung z.B. im Bereich der Zahnheilkunde aufgehoben und im humanmedizinischen Bereich durch die Möglichkeit der Filialisierung durchlöchert, schwindet auch hier zunehmend die Rechtfertigung für derartige Einschränkungen der Berufsausübungsfreiheit. Dies zumal die 68-Jahresgrenze auch nicht mehr strikt durchgehalten wurde. So können auch ältere Ärzte weiterhin Vertretungen übernehmen,[27] in unterversorgten Gebieten konnte der Landesausschuss beschließen, dass auch über 68-jährige Ärzte vertragsärztlich tätig sind. In manchen Arztgruppen (z.B. Pathologie) herrscht Nachwuchsmangel, eine Bedarfsplanung gab es für diese Fachrichtung bislang nicht, was rechtfertigt also die 68-Jahresgrenze? Folgerichtig hat sie der Gesetzgeber auch im Bereich der Humanmedizin mit dem GKV-OrgWG rückwirkend zum 1.10.2008 aufgehoben.[28]
8
Auch Unternehmen können sich grundsätzlich auf Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG berufen.[29] Teilweise wird in diesem Zusammenhang auch Art. 14 GG genannt, wenn z.B. Gewinnmöglichkeiten des Arzneimittelherstellers beeinträchtigt werden. Hier ist allerdings bereits der Schutzbereich von Art. 14 GG sehr strittig.[30] Dies gilt auch für den Eigentumsschutz durch Zulassung,[31] soweit Preisregelungen gemeint sind, wie das Festbetragsurteil des BVerfG[32] zeigt. Wenn auch den Entscheidungen zu entnehmen ist, dass durch die angegriffenen Regelungen zwar in die Berufsausübungsfreiheit von Unternehmen in zulässiger Weise (Stabilisierung des Sozialversicherungssystems) eingriffen werden darf, steht auf der anderen Seite eine Stärkung der verfahrensrechtlichen Position der Unternehmen, um ihnen Beteiligungsrechte zu sichern. Zunehmend können sich Unternehmen im Gesundheitswesen auf die Transparenzrichtlinie 89/105 EWG berufen,[33] zumal der EuGH[34] ihre direkte Anwendung für die Aufnahme in (leistungsbeschränkende und/oder gewährende) Listen bestätigt hat. Der Gesetzgeber hat dem in § 34 Abs. 6 SGB V[35] für den Fall der OTC-Liste des G-BA und in § 35b SGB V für die Nutzenbewertung Rechnung getragen. Generell ist eine Entwicklung zu beobachten, dass Preisregelungsinstrumente im Arzneimittelsektor, soweit jedenfalls ihre Abgabe im Rahmen der GKV betroffen ist, sowohl auf Seiten der Pharmazeutischen Industrie wie auch der Apotheker, erhebliches Gewicht bekommen. Verfassungsrechtlich wird dies weitgehend nicht beanstandet.[36]
9
Wie weit der Gesetzgeber im Rahmen seiner Reformvorhaben der GKV in das Recht der Unternehmen der Privaten Krankenversicherung eingreifen darf und welcher Kompetenztitel hierfür einschlägig ist, ist Gegenstand eines heftigen Meinungsstreits.[37] Während die Einführung der (privaten) Pflegepflichtversicherung auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden konnte und letztlich vor dem BVerfG Bestand hatte,[38] lässt sich dies auf den Basistarif und den Kontrahierungszwang der PKV nicht unkritisch übertragen, weil das Regelungskonzept in § 110 SGB XI und § 178a Abs. 5–9 VVG[39] nicht deckungsgleich СКАЧАТЬ