Название: Der kunstfertige Fälscher
Автор: Maria Attanasio
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Alltagshelden
isbn: 9783949558030
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In einem Artikel vom 17. Oktober 1885 in Il Cimento — eines der zahlreichen kurzlebigen Blätter, die in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts für Bewegung im politischen und kulturellen Leben von Caltagirone sorgten — war die Rede von dem außergewöhnlichen Malertalent des jungen Mannes und von einem sehr schönen, in der Via del Corso ausgestellten Portrait, gemalt »ohne fremde Hilfe, nur mit natürlicher Begabung; doch weit mehr könnte er erreichen, wenn ihm jemand, zum Beispiel die Stadtverwaltung, die Mittel für ein Studium zur Verfügung stellte«.
Und das Rathaus stattete Paolo tatsächlich mit solchen Mitteln aus, wie es jahrhundertealter Brauch einer Stadt so wollte, in der eine kleine Elite aristokratischer Familien, sich in den Amtssesseln der Institutionen abwechselnd, den überaus reichen öffentlichen Besitz verwaltete. Sie taten das zum eigenen Vorteil, aber mit großem politischem Gespür: So versahen sie die Gemeinde mit allen denkbaren kulturellen Einrichtungen und Wohltaten und schickten die Verdienstvollsten unter den jungen Leuten — aller Gesellschaftsschichten — auf Kosten der Stadt zum Studium an die renommierten Universitäten und Akademien Italiens. Im Gegenzug wuchsen Ansehen und Macht der Honoratioren, wie es just in diesen Jahren bei Giorgio Arcoleo der Fall war.6 Auch dem vielversprechenden Paolo Ciulla wurde ein Stipendium zugesprochen, damit er weiterhin Malerei an den Kunstakademien in Rom und in Neapel studieren konnte, doch mit der stillschweigenden Verpflichtung, nach Beendigung des Studiums sein Können der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. In devotem Einvernehmen mit ihrer führenden Klasse.
Zwei
Ans Fenster gelehnt, betrachteten die zwei jungen Männer das ungewohnte Bild verschneiter Dächer und Kirchen.
»Was für ein seltsames Licht! Eine Minute noch, dann gehen wir«, sagte Paolo erregt, der, Bleistift und Papier in der Hand, an einer Skizze seines Freunds arbeitete; Santi war Sizilianer wie er, allerdings aus Augusta, Sprössling einer Künstlerfamilie, die seit der Renaissance viele Maler und Stuckateure hervorgebracht hatte.
Sozusagen aus geographischer Solidarität war bei ihrer ersten und befremdlichen Begegnung mit Rom unmittelbar ein Einvernehmen zwischen den beiden jungen Männern aufgekeimt. Und das trotz ihrer grundsätzlichen Verschiedenheit, die den exzentrischen Paolo — dem alle, Kollegen wie Professoren, außergewöhnliches Talent bescheinigten — dem schüchternen Zimmergefährten und Kommilitonen Santi gegenüberstellte, der oftmals durch die bestürzenden öffentlichen Auftritte des Freundes in Verlegenheit geriet. Heftig war dann die Streiterei, rasch aber folgte die Versöhnung. An jenem Nachmittag wollte Paolo den Freund zu der Versammlung mitschleppen, auf der eine — für ein paar Tage später geplante — Protestkundgebung gegen den Kolonialkrieg und das Massaker im eritreischen Dogali vorbereitet werden sollte. Sozialisten, Garibaldiner, Anarchisten, Republikaner, sogar radikale Monarchisten, alle wollten sie zu dieser Kundgebung kommen und den Rücktritt des Regierungschefs Depretis fordern. Und für alle galt die Parole »Keinen Sou und keinen Mann für den Feldzug in Afrika!«7. Santi widerstrebte so etwas, er argumentierte, dass es der letzte Tag der Ausstellung sei, deren Besuch ihnen der Professor für Modellzeichnen ans Herz gelegt hatte. Doch es war weniger eine Empfehlung als eine Verpflichtung: Die Skulptur von Medardo Rosso — hatte der Professor erklärt — sei keine Millimeter genaue Vermessung von Bewegung und Raum, sondern atmende Materie, Form gewordenes Licht: die neue Kunst, wie sie in Paris am Entstehen war.
Paris war, wie für jeden Studenten an der Akademie, auch für Paolo und Santi die Utopie von Leben und Kunst schlechthin: Sie hatten sich geschworen, nach dem Studium zusammen dorthin zu gehen.
Sie fanden einen Kompromiss: zuerst ein kurzer Besuch der Ausstellung, danach die Versammlung. In der Galerie dann trennten sich ihre Wege. Santi brachte wie immer die Dinge rasch hinter sich. Paolo verweilte, um die kleinen Skulpturen von Schuhmachern, Dienerinnen, Kindern, Wäscherinnen in Augenschein zu nehmen. Lange verharrte er vor der Figur eines Straßensängers mit zerlumptem Mantel und Gitarre in der Hand, das Gesicht von einem Schlapphut verschattet. Paolo meinte, einen Schrei der Ohnmacht zu hören: eine quälende Sehnsucht ohne Aussicht auf Erlösung, wie das Leben hätte sein sollen und es doch nicht war. Diesem Sänger fehlte nicht nur die Arbeit, sondern auch die Freude am Gesang. Draußen vor der Galerie stritt er später heftig mit Santi, der in der Kälte auf ihn gewartet hatte und dann beleidigt, sich dem Freund widersetzend nach Hause ging. »Eine Ausrede! In Wahrheit hast du Angst«, rief ihm Paolo verächtlich hinterher. So machte er sich allein auf den Weg zur Versammlung, die bei seinem Eintreffen bereits in vollem Gange war.
In das dichte Schweigen des Publikums fielen die Worte der jungen Russin8 wie Gluttropfen und umrissen die zukünftige Landkarte der Geschichte: der eines 20. Jahrhunderts, das Ausbeutung und Privilegien abschaffen würde und bereits vor der Türe stand: In Russland, in Frankreich, auch in Italien waren Bauern, Arbeiter, Intellektuelle auf dem Weg zur Revolution, denn, so schloss die Rednerin mit bebender Stimme, »eine Revolution ohne umfassende und glühend vorangetriebene Zerstörung kann es nicht geben, eine Zerstörung, heilsam und fruchtbar, denn nur aus ihr und nur durch sie können neue Welten erschaffen und geboren werden«9.
Mit einem Schlag wurde aus der Vision, die Paolo in einer Augustnacht des vorangegangenen Sommers gehabt hatte, eine klare Vorstellung.
Turi war es gewesen, der ihn in die Paläste der Aristokratie eingeführt hatte, Turi, mit dem er, wann immer er von der Akademie nach Hause kam, trotz Vorhaltungen und Murren der Eltern seine Zeit verbrachte: In Maruzellas Ausschank tranken sie dann Wein, stärkten sich mit weißen Bohnen, im Tausch gegen ein paar Skizzen. Zusammen sah man sie auch auf den exklusiven Empfängen des hochtrabenden Adels, bei denen jedoch auch Künstler Zutritt hatten und oftmals an der Gestaltung der Beleuchtung und des Bühnenbilds beteiligt waren. Auf jenem Fest im August waren sie alle im Palazzo Libertini zugegen: Bildhauer, Dichter, Musiker und Maler, und obgleich Paolo sich mit aller Kraft danach sehnte, wagte er es nicht, sich ihnen zu nähern.
Turi und Paolo wurden gleich nach ihrem Eintreffen, noch vor dem mitternächtlichen Tanz, in einen Saal geleitet, wo sich vornehme Damen am Klavier abwechselten. Turi, der verrückt nach Musik war und sämtliche Opern, Sängerinnen und Sänger kannte, wandte sich degoutiert ab und ging ans Buffet. Paolo blieb, an den großen Marmorkamin gelehnt, bis zum Auftritt der Baronin, die auf der Harfe Auszüge aus der Oper Faust spielte. Ein leichtes Atmen hob ihr Tablier aus rotem, mit goldenen Blumen besticktem Brokat über dem Gewand aus weißem Damast. Mythisch und zeitlos, wie eine griechische Vasenmalerei.
Die Nacht war warm. Grüppchen von Männern und Frauen verließen den Ballsaal und ergingen sich auf der schwach beleuchteten Terrasse, über die Schatten hinweghuschten, wie sie von lokalen Künstlern entworfen waren — von Bäumen, fliehenden Tieren, Barken auf der Fahrt über ein virtuelles Meer: ein dahintreibendes Schiff auf dem undurchdringlichen Schwarz der Piazza, die sich Stunden später mit Tagelöhnern füllte, die hofften, zu einem Arbeitseinsatz gerufen zu werden. Paolo sah Hacken, Sicheln, Jätmesser an der Fassade hinaufklettern, in die barocken Salons eindringen, mit der düsteren Farbe der Not den Stuck, die Tänze, den hellen Seidenglanz der Tapeten verdunkeln, während die Dame an der Harfe, ungerührt von allem, ihr Spiel fortsetzte.
Wenige Stunden später entdeckte die Hausherrin beim Durchqueren eines kleineren Saals etwas abseits den jungen Ciulla, der mit Zeichnen beschäftigt war. Sie beugte sich nach vorn, um die Skizze zu betrachten. »Das bin ja ich!«, rief sie mit Staunen und Bewunderung aus. Während alles um ihn herum versank, hörte sich Paolo mit gezierter Stimme sagen: »Zu gütig, Baronin, stets zu Ihren Diensten.«
Und Liebesdienst wurde ihm der erregende Gedanke an ihre Finger auf den Harfensaiten, während er einsam sich Lust verschaffte und Männergesichter sich über dieses Bild legten, damit verflossen, und einmal sogar — gefolgt von großen Schuldgefühlen und außerordentlicher Wollust — das schlichte Antlitz seiner Mutter auftauchte. Platonisch СКАЧАТЬ