Der kunstfertige Fälscher. Maria Attanasio
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Название: Der kunstfertige Fälscher

Автор: Maria Attanasio

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Alltagshelden

isbn: 9783949558030

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СКАЧАТЬ Aber aus dem hintersten Winkel seines Gedächtnisses, wohin er sie abgedrängt hatte, erschallten ohrenbetäubend die Schreie der Männer und Frauen an den blockierten Türen des Teatro Sangiorgi. Die Pistolenschüsse, die Gewehrsalven auf die im Theater versammelte Menschenmenge, die wegen des Massakers an neun Arbeitern aufbegehrte, das sich zwei Tage zuvor, am 28. Juli 1920 in Randazzo ereignet hatte.

      In den Haufen schießen, den Protest unterbinden, so lautete der Befehl.

      Und geschossen hatten sie, und ob! Blutspritzer auf dem weißen Stuck, auf den Jugendstilblumen des Eisengitters: Tote und Verletzte überall, und ein Kind mit weit aufgerissenen Augen, sich die Ohren zuhaltend, das sie gewaltsam unter einem Sessel hervorgezerrt hatten.

      Einen Monat später war er endgültig in die Fahndungsabteilung gewechselt und hatte fortan — von einer wahren Last befreit — ausschließlich gegen Geldfälscher, Diebe, Betrüger aller Art zu ermitteln; das war nun zwei Jahre her.

      Das Leuchten eines Kakibaums, der sich sonnenbeschienen und in vollem Fruchtstand vor der unbeschwerten Klarheit des Oktobermittags abhob, verwischte diese Bilder. Er konnte wieder tief durchatmen, während er das Stimmengewirr der Innenstadt hinter sich ließ, auf dem Weg in den abgelegenen Teil der Allee, dorthin, wo sich die Häuser umringt von der riesigen schwarzen Wüste der Lavaschlacken lichteten.

      Um seine Verkleidung zu erproben, blieb er vor jeder Tür stehen, seine Waren im Falsett den Frauen des Hauses feilbietend, von denen ihm gar eine in weiblicher Vertraulichkeit innerhalb einer Viertelstunde ihr ganzes Leben erzählte — der schwächliche Ehemann, die prügelnde Schwiegermutter, der undankbare Sohn — und ihn am Ende um seiner Unversehrtheit willen beschwor, einen großen Bogen um das Haus des »Mavaro« zu machen.

      »Gott steh uns bei«, sagte sie und wies auf das Haus, »er liest das Libro del Cinquecento4 und nachts ruft er die Geister an.« Die Verkleidung tat ihren Dienst.

      Entschlossen legte er die rund hundert Meter zurück, die ihn noch von der Hausnummer 431 trennten. Zu dieser Zeit musste der Mann daheim sein, wahrscheinlich im Bett fürs Nachmittagsschläfchen. Lange klopfte er an die Tür. Vergebens. Er klopfte lauter, heftiger. Endlich öffnete sich das Fenster, ein verschlafener Mann im Unterhemd zeigte sich voller Zorn. »Was ist das denn für eine Art, mich zu stören! Hau ab, ich habe geschlafen«, und als er die Silhouette einer Frau erblickte, setzte er hinzu, »Weiber gibt es hier im Haus keine!« Und damit schloss er das Fenster mit solcher Wucht, dass es fast aus den Angeln fiel.

      Alles in allem kaum eine Minute, vielleicht weniger. Dennoch hatte der Ermittlungsbeamte Petralia sofort die Bügelbrille und den Spitzbart des mysteriösen Don Paolo wiedererkannt. Im Oktober vor zwei Jahren hatten er und sein Kollege Alparone ihn vom Haus des Falschgeldhändlers Chiarenza bis zur Hälfte der Via Etnea beschattet, wo der Mann, sich verfolgt fühlend, eine Kutsche genommen hatte, mit der er auf Nimmerwiedersehen inmitten der zweihunderttausend Einwohner der Stadt untergetaucht war.

      Don Paolo war Chiarenzas Lieferant, daran gab es für die beiden Polizisten keinen Zweifel. Sie hatten, als Bettler verkleidet, beobachtet, wie er jeden Donnerstagnachmittag immer zur selben Stunde das Haus des Händlers betrat, wo sich bereits ein paar Leute eingefunden hatten. Nach einer Viertelstunde ging er wieder weg, und nach ihm alle anderen, einzeln, so wie sie gekommen waren. Den Namen jenes Mannes hatten sie von einem Vertrauensmann erfahren, der in derselben Straße lebte. Um das Kommen und Gehen der Leute zu rechtfertigen, hatte Chiarenzas Frau gegenüber den Nachbarn behauptet, dass Don Paolo ihnen jede Woche die Zahlen für das Lottospiel überbrachte.

      Doch der Zahlenlieferant wurde nicht mehr bei diesem Haus gesehen, und zwei Monate Ermittlungen und Nachstellungen lösten sich in Rauch auf.

      Und da, plötzlich hatte er ihn wiedergefunden, diesen Bastard.

      Petralia vergaß, seine Gangart der Verkleidung anzupassen, und traf mit Riesenschritten und strahlendem Gesicht im Kommissariat ein.

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      Schlurfend, doch geschickt Gegenständen und Mobiliar ausweichend, bewegte sich der Mann voller Unruhe zwischen Bett und Fenster hin und her. Er öffnete das Fenster. Die Nacht tauchte die Lavafelder in ein noch tieferes Schwarz.

      Zurück im Bett versuchte er, wieder in den Schlaf zu finden, aber vergebens. Vielleicht in dunkler Vorahnung dessen, was ein paar Stunden später mit ihm geschehen und ihn aus der Anonymität jener ruhigen Stadtrandlage auf die Titelseite der Zeitungen katapultieren sollte.

      Auch die große Geschichte vollzog sich in jener Nacht. In Mailand arbeitete Mussolini — zusammen mit Balbo, Bianchi, De Bono und De Vecchi — Punkt für Punkt den Marsch auf Rom aus, infolge dessen wenige Wochen später seine Regierung gebildet wurde und zwanzig Jahre lang Regime blieb.

      All das war in jenen Stunden vor dem Morgengrauen des 17. Oktobers 1922 noch bloße Virtualität von Ereignissen, die auch gar nicht hätten geschehen müssen, beispielsweise wenn der schlaflose Mann in jenem Haus inmitten der Lavafelder Papiere und Apparate zerstört hätte und nach Caltanisetta abgereist wäre, wie es einige Monate zuvor noch seine Absicht war, die er dann plötzlich aufgegeben hatte. Oder wenn am darauffolgenden 27. Oktober der König die Empfehlung des Ministerpräsidenten Luigi Facta aufgegriffen hätte, nämlich den Belagerungszustand auszurufen und mit militärischen Mitteln auf den Marsch der Faschisten auf Rom zu reagieren.

      Auf der Grundlage des Wenn/Falls der jeweiligen Wahlmöglichkeiten sind die individuellen wie die kollektiven Ereignisse zu beurteilen: Was geschehen ist, hätte genauso gut auch nicht geschehen können.

      Aber der König verwarf Factas Vorschlag. Und der Mann in dem Haus bei den Lavafeldern brach nicht nach Caltanisetta auf, sondern tappte in jener Nacht weiter schlaflos zwischen Bett und Fenster hin und her.

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      Ein ansehnlicher Trupp Sicherheitsbeamter unter dem Kommando von Kommissar Gulizia bezog Stunden vor Morgengrauen rings um das Haus des »Mavaro« Stellung. Eine im nahegelegenen Zollhaus versteckte Gruppe postierte sich auf der Seite zur Allee hin mit Blick auf die kleine Eingangstür; eine andere verteilte sich zwischen dem Lavageröll hinter dem Haus, um ja keinen Moment die tiefgelegenen Fenster aus den Augen zu verlieren, durch die selbst ein Halbblinder wie der professore ganz einfach hätte entwischen können.

      Schwaches Licht einer Öllampe sickerte durch die Fensterläden, die nicht wie sonst ganz zugezogen waren. Das Haus war also nicht im Tiefschlaf versunken, und der Kommissar befürchtete eine undichte Stelle unter den Kollegen und eine Falle des Mannes, der, um Verwirrung zu stiften, womöglich am Abend zuvor ungestört das Haus verlassen und die Lampe hatte brennen lassen. Doch er beruhigte sich, als er einen Schatten im Zimmer gewahrte und sah, wie dieser stehen blieb und das Fenster öffnete.

      Der Ermittler Petralia und der Königliche Gardist Gervasi, die an den Seiten des Fensters postiert waren, um im Fall der Fälle rechtzeitig eingreifen zu können, spürten in allernächster Nähe seinen schweren Atem und seine nervös das Fensterbrett umklammernden Hände. Sie atmeten auf, als der Mann ins andere Zimmer ging, doch sogleich kam er mit einer Mappe voller Zeichnungen zurück. Auf dem Bett sitzend, nahm er sich eine Zeichnung nach der anderen vor, zog dann zwei heraus und befestigte sie mit Reißzwecken an der Wand. Dann setzte er die Brille ab, trat ganz nah an sie heran, wie um sie zu küssen. Stattdessen tat er je drei Mal so, als wollte er sie anspucken — zuerst die eine, dann die andere.

      »Wie ein Hexer«, sagte Gervasi verschreckt zu Petralia, der ihn beruhigte. »Das ist ganz bestimmt unser Mann. In ein paar Stunden wirst du schon sehen.« Der Mann verschloss das Fenster ganz fest. »Endlich geht er СКАЧАТЬ