Название: Geist & Leben 1/2019
Автор: Verlag Echter
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783429064273
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1) Offen bleibt die Verbindung von Gotteserkenntnis und der Erkenntnis geschaffener Wirklichkeiten: Gegen Ende seiner Abhandlung über das Gebet schreibt Evagrius: „Selig ist der Mönch, der in allen Menschen Gott sieht.“ (Or 123) Wie kann das möglich sein, wenn der Mönch Gott bereits unmittelbar erkannt hat? Gott mittelbar in allen Menschen zu sehen ist die Erkenntnisweise der Physike. Wer aber bereits auf die höchste Stufe der Theologike hinaufgestiegen ist, für den ist die vermittelte Gotteserkenntnis im Geschaffenen ein Rückschritt15.
2) Offen bleibt auch die Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe: So schreibt Evagrius: „Ein Mönch ist ein Mensch, der sich von allem getrennt hat und sich doch mit allem verbunden fühlt.“ (Or 124) Wiederum stellt sich die Frage, wie das im vorliegenden Denkmodell anders denn als Rückfall in die Physike gedacht werden kann16.
3) Hinter beiden steht die Frage nach dem Verhältnis vonirdischer und göttlicher Wirklichkeit: Ist die irdische Wirklichkeit auf dem Weg zur Gotteserkenntnis ein Hindernis, das man loslassen muss, um zur unmittelbaren Gotteserkenntnis zu gelangen?17 Oder ist die geschöpfliche Wirklichkeit der in alle Ewigkeit einzige Weg des Menschen zur Gotteserfahrung, der uns Gott in „vermittelter Unmittelbarkeit“ (Bernard Lonergan) begegnen lässt? „[D]ie Kreatur (…) in ihrer Entsprungenheit und Selbständigkeit in Gott zu finden (…), das Kleine im Großen, das Umgrenzte im Grenzenlosen, das Geschöpf (es selbst!) im Schöpfer: das ist erst die (…) höchste Phase unseres Gottesverhältnisses.“18
4) Hinter diesen inneren Widersprüchen im Denken der beiden Mönchsväter steht eine Anthropologie: Ist Liebe nicht mehr als ein rein geistiger Vollzug, nämlich eine personale, ganzheitliche Hingabe? Und ist die Erkenntnis Gottes nicht mehr als ein ungegenständliches Wahrnehmen, nämlich ein Vertrautsein mit dem Geheimnis? Spielen Leib und Gefühle tatsächlich keinerlei Rolle für Gottesliebe und Gotteserkenntnis, haben sie keine bleibend positive Bedeutung im Rahmen der Kontemplation? Die Anthropologie von Evagrius und Cassian ist keineswegs leibfeindlich. Aber sie misst dem Leib, den Sinnen, den Gefühlen auch keinerlei positive oder konstruktive Bedeutung im geistlichen Leben zu.
Indifferenz. Das ignatianische Bild geistlichen Lebens
Das Gegenmodell einer „Mystik der Weltfreudigkeit“,die nicht auf Apatheia, sondern auf Indifferenz zielt, hat Ignatius von Loyola (1491–1556) entworfen. In den„Geistlichen Übungen“ legt er seine Spiritualität systematisch-detailliert dar.
Indifferenz als Ziel der Askese
Der Schlüssel zur ignatianischen Spiritualität ist der Begriff „indifferent“. „Außer in EB 170, wo von ‚indifferenten Dingen‘ gesprochen wird, handelt es sich immer darum, den Willen des Menschen zu bestimmen: sich indifferent machen, sich indifferent finden, indifferent sein.“19 Der berühmte Text, in dem Ignatius sein Verständnis der Indifferenz darlegt, steht als „Prinzip und Fundament“ am Beginn des Exerzitienbuchs: Es ist „notwendig, uns allen geschaffenen Dingen gegenüber gleichmütig (indiferentes) zu machen, überall dort, wo dies der Freiheit unseres Wahlvermögens eingeräumt und nicht verboten ist (…), einzig das ersehnend und erwählend, was uns jeweils mehr zu dem Ziele hin fördert, zu dem wir geschaffen sind.“ (EB 23) Den Begriff „indifferent“ übernimmt Ignatius vermutlich während seines Pariser Theologiestudiums von Thomas von Aquin, s.th. I q. 83 a. 2, wo dieser ebenfalls den Willen charakterisiert und nicht wie in der stoischen Philosophie und bei Cassian die Adiaphora, die ethisch neutralen Güter. Auch das Beispiel von Gesundheit und Krankheit findet Ignatius bei Thomas, s.th. I–II q. 13 a. 3, und vom „Prinzip und Fundament“ ist in s.th. I q. 82 a. 1 die Rede20. „Durch Ignatius scheint dieses Wort [‚indifferent‘] aus der philosophischen in die spirituelle Sprache eingeführt worden zu sein (…). Offenbar hat Ignatius bei Thomas genau den Begriff gefunden, den er für die Umschreibung des wählenden freien Willens suchte.“21
In minutiöser Analyse verschiedener überlieferter Textvarianten des „Prinzips und Fundaments“ zeigt Leo Zodrow überzeugend, dass in einer von ihnen eine große Gefahr lauert: Die ignatianische Indifferenz kann dort als stoische Apatheia missverstanden werden. Und da diese fehlerhafte Textvariante, in der das „mehr“ im letzten Halbsatz fehlt, die am meisten verbreitete war, setzte sich das Missverständnis bis ins 20. Jh. als Standardverständnis durch. „Das Vokabular der ignatianischen Indifferenz, wie es von den spirituellen Autoren verwendet wird, gleitet unmerklich hin zu einer Apatheia-Indifferenz“22, zu einem inneren und passiven Zustand der Zustimmung zur Führung Gottes.
Indifferenz bedeutet keine Leidenschaftslosigkeit, sondern eine Balance der Leidenschaften bzw. Begehren „von unserer Seite“ her. Im „Prinzip und Fundament“ steht nicht, dass der Mensch nichts, sondern dass er „X nicht mehr als Nicht-X“ begehren solle. Ignatius verwendet gerne das Bild von einer Waage, die sich im Gleichgewicht befindet (EB 15; 179). Nur die ungeordneten Leidenschaften (afecciones desordenadas) werden losgelassen, insgesamt aber das Leben einschließlich der Leidenschaften geordnet (EB 1). Ignatius verfügt sogar, dass der Übende, wenn er X anfänglich mehr begehrt als Nicht-X, nicht danach streben soll, das Begehren von X zu mindern oder zu eliminieren, sondern das Begehren von Nicht-X zu steigern (EB 16). So stehen später starke Leidenschaften zur Verfügung, um aus ganzem Herzen und mit aller Kraft das zu realisieren, was als Gottes Willen erkannt wurde.
Zugleich verlangt Ignatius vom Übenden eine starke Leidenschaft für das Magis, ein Verlangen, das „Mehr“ zu realisieren: „einzig das ersehnend und erwählend, was uns jeweils mehr zu dem Ziele hin fördert, zu dem wir geschaffen sind.“ (EB 23) Von allen ethisch verantwortbaren Handlungsoptionen soll der Exerzitant also nicht irgendeine wählen, die ihn zum Ziel hin fördert, sondern jene, die ihn mehr, man könnte auch sagen: am meisten zum Ziel hin fördert. Im Zustand der Apatheia hingegen wäre keine Wahl möglich, denn diese braucht ein Verlangen als Maßstab für das Richtige: Das Verlangen nach dem Magis, nach dem, was den Menschen mehr zu Gott hinbringt. Und dieses Verlangen kann nur wirkmächtig werden, wenn alle anderen Leidenschaften in der Balance sind. Dann gibt das Magis den Ausschlag nach der einen oder der anderen Seite. Anschließend aber werden die Leidenschaften wieder gebraucht, um in die Tat umzusetzen, was der Exerzitant als richtig erkannt hat.
Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten
Den Weg zur Indifferenz charakterisiert Ignatius als ein Ordnen der Leidenschaften – nicht so sehr durch die Vernunft, sondern durch Gefühle wie „Zerknirschung (contrición), Schmerz, Tränen über ihre Sünden“ (EB 4) sowie „Beschämung und Verwirrung“ (EB 48). In der ersten Woche des Exerzitienprozesses geht es darum, sich der Sünden im Gedächtnis zu erinnern, sie mit dem Verstand zu durchdenken und die Affekte vom Willen her zu den genannten Gefühlen hin zu bewegen (EB 50). Das ist ein komplett anderer Weg als der stoische, der allein den Verstand in der Rolle des Steuermannes sieht. Für Ignatius sind die Gefühle die entscheidende Kraft. Mit ihrer Hilfe sollen die Übenden anschauen, wer sie sind – „eine Wunde und ein Geschwür“ – und wer Gott ist –Weisheit, Gerechtigkeit, Güte (EB 58–59) –, und dann über die Barmherzigkeit Gottes und der Mitgeschöpfe „mit stets steigendem Affekt“ staunen (EB 60–61). Die „Seelenbewegungen“, wie Ignatius die Affekte oft nennt, werden also kontinuierlich intensiviert und mittels sinnenhafter Vorstellungen in eine Ausrichtung auf Gott und die Mitgeschöpfe gebracht.
Die Gefühle haben aber nicht nur anspornenden, handlungsantreibenden Charakter, sondern sind zugleich ein Maßstab der Orientierung, der die Barmherzigkeit Gottes ebenso hervortreten lässt wie die eigene Wandlungsbedürftigkeit. Welche große Bedeutung Ignatius den Gefühlen zumisst, wird in EB 63 deutlich: „Erstens, dass ich eine innere Durchdrungenheit СКАЧАТЬ