Alles Materie - oder was?. Hans-Dieter Mutschler
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Название: Alles Materie - oder was?

Автор: Hans-Dieter Mutschler

Издательство: Bookwire

Жанр: Религия: прочее

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isbn: 9783429062712

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СКАЧАТЬ Ludwig Erhard – ständig Zigarre rauchend – war zur selben Zeit, nämlich ab 1963, Bundeskanzler geworden und hatte kurz zuvor ein Buch mit dem bezeichnenden Titel geschrieben „Wohlstand für alle“. Während sein Vorgänger, Konrad Adenauer, der im Dritten Reich das eigene Leben riskiert hatte, stets darauf achtete, dass Deutschland nach den Zeiten der Barbarei wieder ein Land der sittlichen Substanz würde, heizte Erhard einseitig den Konsum an, so als hinge unser Glück allein davon ab. Es scheint, dass wir ihm seither gefolgt sind und dass der private Konsum und die Steigerung des individuellen Lebensstandards unser vorrangiges Ziel sind. Dies gilt selbstverständlich nur statistisch (rühmliche Ausnahmen bestätigen immer die Regel).

      Diese Dominanz des Hedonismus und des Habenwollens hat bei Josef Ratzinger für ein pessimistisches Geschichtsbild gesorgt. Er sieht die heutige Gesellschaft in Relativismus und Hedonismus versinken und empfiehlt als Gegenmittel die christliche Religion. Aus diesem Grunde führte er als Papst das Projekt einer „Neuevangelisierung Europas“ fort, das sein Vorgänger ins Leben gerufen hatte. Es ist aber nicht sicher, ob wir den herrschenden Hedonismus der Gesellschaft, den niemand bestreiten kann, moralisierend deuten sollten, denn die Menschen sind heute nicht schlechter als früher, aber vielleicht fehlt ihnen die motivierende Kraft zur Selbstlosigkeit, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu formal sind. Die Menschen sind eben Herdentiere und vielleicht nicht einmal zu Unrecht, denn wir sind auf Anerkennung und Kooperation angewiesen. Wenn sich in einer Gesellschaft wie der unsrigen das individuelle Habenwollen als Grundhaltung durchgesetzt hat, dann wird der Einzelne die Tendenz haben, sich dem anzupassen, und man sollte deshalb hier nicht zu rasch mit moralischen Kategorien und Verurteilungen arbeiten. Sicher aber scheint, dass dieses Projekt einer „Neuevangelisierung Europas“ keine guten Chancen hat. Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Völker Europas erneut der Kirche beugen werden.

      Habermas beurteilt die Situation ebenfalls sehr pessimistisch, wenn auch aus anderen Gründen. Für ihn als Sozialphilosoph sind die multinationalen Unternehmen eine Bedrohung der bürgerlichen Freiheit, und was ihn besonders beunruhigt, sind die fortschreitenden Medizintechnologien, die in eine neue Form der Barbarei hineinführen könnten, dann nämlich, wenn Menschen die Eigenschaften ihrer Nachkommen manipulieren, ohne dass diese die Möglichkeiten hätten, sich zu wehren. Ein weiterer Grund – aber das sagt er nicht so laut – könnte sein, dass er Zweifel am eigenen Projekt hat.

      Habermas ist ein großer Intellektueller, und er entwirft sein Konzept des Staates allein von der Vernunft her. Alles Substanzielle, Nationale, Patriotische, Metaphysische lehnt er ab. Daher übernahm er von Dolf Sternberger den merkwürdigen Begriff des ‚Verfassungspatriotismus‘. Das ist ein weit hergeholtes Hirnkonstrukt. Der Patriot opfert im Grenzfall sein Leben für den Staat, aber wer wird bereit sein, für eine Verfassung zu sterben? Vielleicht sind diesem großen Intellektuellen inzwischen doch Zweifel am eigenen Intellektualismus gekommen, denn der Staat reproduziert seine sittliche Substanz – wenn überhaupt – aus Leidenschaft und nicht aus der reinen Vernunft – so wie auch sonst die Kinder gezeugt werden. Ein aus Vernunft gezeugtes Kind würde in eine lieblose Welt hineingeboren.

      Jedenfalls kann man sich gut vorstellen, dass Habermas aus Verzweiflung über die sittliche Erosion der Gesellschaft dort Hilfe sucht, wo er noch genügend Substanz vermutet: bei der Kirche. Er würde natürlich nie so weit gehen, den Glauben als Remedium der modernen Krankheit zu empfehlen, denn in Wahrheit hat er ein rein instrumentelles Verhältnis zur Religion. Er sieht in ihr so etwas wie das Rohöl der Vernunft, das mit Hilfe der „Theorie des kommunikativen Handelns“ aufgecrackt und in gebrauchsfähigen sozialen Treibstoff verwandelt werden muss. Die Religion ist ihm lediglich Mittel zum Zweck der Vernunft.

      Wie auch immer, wir können in diesem Dialog Ratzinger – Habermas ein Symptom dafür sehen, dass verantwortliche Vertreter gegensätzlicher Weltanschauungen das moralische Defizit der modernen Gesellschaft erkannt haben, das durch den Verlust des Glaubens hervorgerufen wurde. Auf einer kollektiven Ebene haben wir es nicht vermocht, diesen Verlust zu kompensieren, und eine Zivilreligion wie in den USA existiert bei uns nicht. An diese Zivilreligion und an den intakten Patriotismus der US-Amerikaner konnte John F. Kennedy appellieren. Ludwig Erhard hätte das nicht gekonnt, selbst wenn er es gewollt hätte, aber er wollte ja gar nicht. Wir sehen also, dass ein verantwortungsvoller Atheist wie Jürgen Habermas die Religion als etwas Wertvolles ansieht, auch wenn er nach wie vor bekennt, „religiös unmusikalisch“ zu sein.

      In seiner Friedenspreisrede von 2001 bezieht sich Habermas weiter auf einen religiösen Inhalt, der den Übergang vom Kollektiven zum Persönlichen markiert. Es wurde oben gesagt, dass der Verlust der Religion in beiden Bereichen eine merkliche Lücke hinterlässt, sowohl im Bereich der Gesellschaft als auch im Bereich des Individuellen. Die Primitivatheisten, von denen weiter unten die Rede sein wird, betrachten den Verlust der Religion als Gewinn in jeder Hinsicht. Sie verweisen auf die sattsam bekannten dunklen Seiten der Kirchengeschichte wie Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Ketzerverfolgungen, Inquisition, Zwangsbekehrungen usw., und sie führen das Elend der Welt insgesamt als ein Argument gegen die Existenz Gottes ins Feld. Ist Gott abgeschafft, dann braucht es keine Kirche mehr, ihre dunklen Seiten entfallen automatisch und das Theodizeeproblem ist gelöst. Wo es keinen guten Gott gibt, ist auch das Elend der Welt keine Instanz mehr gegen seine Güte, und wo es keine Kirche mehr gibt, gibt es auch keine Kreuzzüge.

      All das wird heute gebetsmühlenhaft wiederholt, aber es wird nicht besser durch diese rein mechanische Wiederholung, denn das Elend der Welt verschwindet noch lange nicht allein dadurch, dass wir Gott abschaffen. Im Gegenteil – es verschärft sich. Denn nun gibt es, wie Habermas in seiner Friedenspreisrede zu Recht bemerkt, keine Hoffnung mehr für die Opfer der Geschichte. Das ist nämlich die Kehrseite der Medaille: Gibt es keinen Gott, dann gibt es auch keine Auferstehung. Dann ist das Grab das letzte Wort über die Opfer der Geschichte, und Hitler hat dasselbe Schicksal wie die von ihm ermordeten Juden. Sie modern gleichermaßen im Grab.

      Kant hielt dies für einen unerträglichen Skandal der Vernunft, so dass er daraus einen Gottesbeweis machte. Es ist nach Kant der Vernunft schlicht nicht zuzumuten – bei Strafe ihrer Selbstzerstörung –, dass wir glauben sollen, der moralisch recht Handelnde, der von den Intriganten und Mächtigen gequält und ermordet wurde, solle auf Dauer dasselbe Schicksal erleiden wie diese Mächtigen, die sich ein gutes Leben auf seine Kosten gemacht haben. Ob dies einen Gottesbeweis hergibt, können wir auf sich beruhen lassen. Ganz gewiss jedoch ist, dass Habermas recht hat, wenn er hier einen unersetzlichen Verlust sieht, den das Verschwinden der Religion nach sich zieht.

      Die Primitivatheisten gehen mit dem Slogan hausieren: „Glaubst du noch oder denkst du schon?“ Danach würde ein rational denkender Mensch den Glauben von sich werfen wie ein schmutziges, zerschlissenes Hemd, um atheistisch frisch ausstaffiert einer strahlenden Zukunft der vorurteilsfreien Vernunft entgegenzusehen. Auf der anderen Seite gibt es kluge Philosophen, die den Verlust des Glaubens beklagen, auch wenn sie ihn nicht mehr nachvollziehen können. Dazu gehört z. B. der Philosoph Herbert Schnädelbach. Er bekennt, dass er nicht glauben könne, und hält das Christentum historisch für überholt. Aber als ein gebildeter Mensch geht er schon mal ins Konzert und hört den Schlusschoral aus Bachs Johannespassion:

      Ach, Herr, lass dein lieb Engelein

      am letzten End die Seele mein

      in Abrahams Schoß tragen.

      Oder Felix Mendelssohns Vertonung des 91. Psalms:

      Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir,

      dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen,

      dass sie dich auf Händen tragen

      und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.

      Schnädelbach gesteht, dass er diese Musik nicht hören kann, ohne tief berührt zu werden oder sogar zu weinen. Aber wenn er das Konzert verlassen hat, dann erscheint ihm das alles nur noch wie ein СКАЧАТЬ