Название: Alles Materie - oder was?
Автор: Hans-Dieter Mutschler
Издательство: Bookwire
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783429062712
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So wie wir den Menschen nicht hinreichend verstehen können, wenn wir nur seine körperlichen Funktionen berücksichtigen, so hat alles in der Welt eine Art von psychosomatischem Zusammenhang, der uns erst die Phänomene in ihrer Ganzheit begreiflich macht. Diesen Gedankengang werden wir nach und nach im Sinn einer Alternative zum heute herrschenden Materialismus entfalten. Es genügt ja nicht, den Materialismus argumentativ zurückzuweisen. Wir möchten auch gerne wissen, was an seine Stelle treten könnte.
Übrigens werden wir uns zumeist nicht dem heute herrschenden Sprachgebrauch anschließen, wonach wir nicht mehr von ‚Materialismus‘ reden sollten, sondern von ‚Physikalismus‘ oder von ‚Naturalismus‘. Der Grund liegt darin, dass es im 18. Jahrhundert einen Klötzchenmaterialismus gab, der sich parasitär an die Newton’sche Physik angehängt hatte. Newton selbst war absolut kein Materialist, aber besonders in Frankreich wurde seine Physik materialistisch gedeutet, indem man unterstellte, das eigentlich Reale seien kleine Materieklötzchen. Als dann im 20. Jahrhundert die Quantentheorie entdeckt wurde, war diese Vorstellung unhaltbar geworden und man sagte sich: Egal, was die Physik an materiellen Bausteinen zutage fördert, das, was sie entdeckt, nennen wir nun ‚das Reale‘, mögen es Punktmassen, Elementarteilchen, Quarks oder Superstrings sein. Man tauschte also das Etikett aus und nannte den Materialismus nun vornehmer ‚Physikalismus‘. Andere wiederum grenzen ihre Weltanschauung gegen das Übernatürliche ab und behaupten, dass es nur die Natur gibt, wie sie durch die physikalischen Gesetze beschrieben wird. Daher der Begriff des ‚Naturalismus‘. Aber ontologisch gesehen, handelt es sich in jedem Fall um ein und dasselbe, nämlich um einen weltanschaulichen Materialismus, weshalb wir es bei diesem Wort belassen sollten.
Es geht hier also um eine Kritik der Auffassung, wonach die Welt nicht nur aus Atomen, Elementarteilchen oder meinetwegen Superstrings besteht, sondern wonach diese materiellen Partikel alles Übrige bestimmen und auf diese Art den traditionellen Geist und damit auch gleich noch den lieben Gott überflüssig machen. Diese sehr verbreitete Auffassung wird sich als haltlos, als ideologisch verbrämt herausstellen, und wir werden deshalb nach einer Alternative fragen müssen.
1. Der kluge und der primitive Materialismus
Es gibt einen klugen und einen primitiven Materialismus. Zunächst wollen wir uns auf den durchaus klugen Materialismus beziehen, um von vornherein den Verdacht auszuräumen, wir hielten den Materialismus ipso facto für primitiv und schlecht. Gläubige Menschen unterschätzen oft die Wucht des Negativen in der Welt, das doch eine mächtige Instanz gegen ihre Überzeugungen darstellt. Es ist eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, angesichts von Auschwitz und Birkenau, angesichts der Gräuel von Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot oder angesichts von Hiroshima und Nagasaki immer noch an einen gütigen Gott zu glauben. Nicht dass ich es für unmöglich hielte, aber das Elend dieser Welt ist offenkundig eine furchtbare Zumutung für den Glauben, und wer sich zu einem solchen Glauben nicht entschließen kann, der hat womöglich seine guten Gründe und mag im Übrigen ein durchaus guter Mensch sein. Wir haben uns viel zu sehr daran gewöhnt, dass der Glaube etwas Selbstverständliches sein sollte.
In der zweiten Hälfte dieses Kapitels soll also auch über den Primitivmaterialismus gehandelt werden, der auf der Illusion beruht, wir würden nur gewinnen, wenn wir die Religion im Mülleimer der Geschichte verschwinden lassen. Das ist nicht nur böswillig, sondern töricht. Der Verlust der Religion ist zugleich mit einem Verlust an existenzieller und moralischer Substanz verbunden, wobei man bis heute nicht sehen kann, was diesen Verlust kompensieren könnte. Diese durchaus wertvolle Substanz des Christlichen können wir in einen gesellschaftlichen und in einen individuellen Aspekt aufteilen. In beiden Bereichen hinterlässt der Verlust des Glaubens eine empfindliche Lücke, und diejenigen, die nicht einfach nur von Hass gegen die Religion erfüllt sind, haben diesen Verlust erkannt. Es sind dies die klugen Atheisten, und sie sind oft traurig über das Verlorengegangene. Karl Rahner unterschied schon vor 50 Jahren die triumphalistischen von den traurigen Atheisten. Letztere sind unsere eigentlichen Gesprächspartner.
a. Der kluge Materialismus
Im Jahr 2004 fand in der Katholischen Akademie in München ein Gespräch zwischen dem Philosophen Jürgen Habermas und Josef Ratzinger, damals noch Kardinal, statt. Das Gespräch wurde als sensationell, von manchen auch als Anstoß erregend empfunden, weil Habermas immer als der Repräsentant einer links-aufgeklärten – selbstverständlich glaubenslosen – Vernunft galt, während man Ratzinger eher zum konservativen Flügel der Kirche rechnete.
Was wollten die beiden voneinander? Eine leicht zynische Lesart würde so lauten: Da treffen sich zwei ältere Herren, deren jeweils multinationale Unternehmen Gefahr laufen, bankrott zu machen, so dass eine heilige oder auch unheilige Allianz zustande kam, so wie sich zwei umstürzende Bäume gegenseitig stabilisieren, damit es nicht so schnell zu Ende geht, sozusagen eine Art von Rentenkonkubinat. Der atheistisch eingestellte Philosoph Hans Albert schäumte vor Wut, weil er annahm, der Aufklärer Jürgen Habermas sei nun zu Kreuze gekrochen, vielleicht weil man im Alter – den Tod vor Augen – eine Rückversicherung braucht in dem Sinn, wie sich große Aufklärer und Atheisten von Voltaire bis Heinrich Heine noch auf dem Totenbett zum christlichen Glauben bekehrt haben. Man weiß ja nie, was da noch kommt.
Aber diese Deutung wäre ganz falsch. Jürgen Habermas hat sich nicht zum Glauben bekehrt. Sein Motiv ist ein ganz anderes, und man sollte dieses Motiv nicht nur als eine strategische Ausflucht aus dem Ungenügen der eigenen Position sehen, so wie Ratzinger seinen Kontrahenten nicht einfach nur als einen reuigen Sünder sah, der in den Schoß der Kirche zurückkehrt. Eine positive Lesart, die dem Sachverhalt wohl eher angemessen wäre, ist die, dass hier zwei bedeutende Vertreter ihrer jeweiligen Weltanschauung von der Sorge umgetrieben wurden, das moderne Gemeinwesen könne von innen her ausgehöhlt werden und irgendwann einmal moralisch kollabieren.
Die Problematik, die hierin liegt, hat der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde so ausgedrückt, dass unser freiheitlichdemokratischer Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht garantieren kann. Dieser Satz machte später als ‚Böckenförde-Diktum‘ Karriere. Er drückt ein Paradox demokratischer Gesellschaften aus, die die Weltanschauung ihrer Bürger nicht mehr festlegen und auf die Art sanktionieren wie noch zu Zeiten der Einheit von Thron und Altar. Kantisch gesprochen, fordert der Staat nur noch Legalität, aber keine Moralität mehr, d. h., er verlangt nur noch Gesetzeskonformität. Aus welchen Gründen der Bürger den Gesetzen gehorcht, ob aus Angst vor Strafe, aus Berechnung oder aus Gutwilligkeit, betrifft den Gesetzgeber nicht weiter, denn der demokratische Staat schnüffelt nicht mehr hinter den Motiven seiner Bürger her. Aber dann kann es geschehen, dass die Sittlichkeit des Gemeinwesens nach und nach austrocknet.
Der Staat ist nämlich darauf angewiesen, sich moralisch zu reproduzieren, so wie er sich auch physisch reproduzieren muss. In beiderlei Hinsicht haben wir heute ein Problem. In allen westeuropäischen Ländern werden zu wenige Kinder geboren. Die eingewanderten Muslime andererseits haben viele Kinder. Es gibt Untersuchungen, wonach bisher nur religiös geprägte Gesellschaften ihr eigenes physisches Überleben sichern konnten. Selbst die vielgelobten Kinderkrippen in der ehemaligen DDR hatten nicht die Wirkung, dass dieser atheistische Staat sein eigenes Überleben sichern konnte. Die hatten auch zu wenig Kinder.
Für die moralische Reproduktion gilt etwas Ähnliches, denn nur eine lebendige Moral lässt sich unseren Kindern beibringen, denn wir sollten Kinder nicht nur physisch, sondern auch moralisch zur Welt bringen. Nun garantierte die traditionelle Religion eine gewisse sittliche Grundsubstanz des Gemeinwesens, aber nichts ist an deren Stelle getreten, vielmehr ist das moderne Individuum gewöhnlich auf sein eigenes Wohlergehen fixiert, vielleicht noch auf das seiner unmittelbaren Nachkommen, aber nur noch selten auf das Wohlergehen des Staates. Der Staat ist jetzt nur noch der Garant meines persönlichen Glücks. Er sperrt die Verbrecher weg, sichert meine Rente und regelt das Verkehrschaos, aber wir haben kein affektives Verhältnis mehr zu ihm.
In seiner Antrittsrede von СКАЧАТЬ