Vergessen und Erinnern. Franz Josef Zeßner-Spitzenberg
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      Ich habe für dieses Buch den Ansatz bei der Liturgie gewählt: In meiner täglichen Arbeit als Seelsorger im Pflegeheim feiere ich regelmäßig mit Menschen Gottesdienst, die einer Predigt nicht folgen können, die kein Gesangbuch lesen können, die die Fähigkeit zu sprechen und Sprache zu verstehen teilweise oder ganz verloren haben. Meine Aufgabe ist es dabei, darauf zu achten, dass die besonderen Bedürfnisse der Gemeindemitglieder in der Art, wie gefeiert wird, ernst genommen werden. Kann Liturgie ermöglichen, dass Menschen, die vieles, fast alles, vergessen haben, auch in ihrer Demenz erfahren: „Der Herr ist mein Hirte“? Bietet der Gottesdienst eine Möglichkeit, dass Lotte Hochrieder auch heute noch etwas von dem spüren kann, was sie vor einigen Jahren als gesunde Frau im Pfarrblatt geschrieben hat: „Er ist ja mein Vater und er hat mich unendlich gern.“? Oder zumindest dafür, ihrer Verzweiflung und Verlassenheit einen angemessenen Ausdruck zu verleihen? Sind Gottesdienste in Pflegeheimen Orte und Zeiten, in denen für Menschen, die an Demenz leiden, „tatsächlich etwas von der tröstenden, hilfreichen und verstörenden Nähe Gottes aufscheint“6, wie es Doris Nauer formuliert?

      Welche Fragen das Thema Demenz an theologische Reflexion stellt, möchte ich im Teil I behandeln. Wichtig ist mir in diesem ersten Teil, das Feld abzustecken, auch wenn die einzelnen Themen nur angerissen und nicht in ihrer Tiefe ausgelotet werden können. Als Folge einer Demenz vergessen Menschen immer mehr. Biologie, Medizin, Psychologie und Psychotherapie können Gründe und Ursachen dafür erforschen. Theologisch betrachtet ist die Frage, warum ein Mensch am Ende seines Lebens seine Erinnerungen verliert und im schlimmsten Fall Jahre in einem Pflegeheimbett „vegetiert“ (Naomi Feil verwendet diesen Ausdruck für das vierte Stadium der Demenz)7, eine Entfaltung der Frage nach Gottes Güte, die angesichts menschlicher Leiden fragwürdig wird. Es ist eine spezifische Entfaltung, die sich wesentlich von der Frage nach dem Leiden von Kindern, wie sie Camus in der Pest oder Dostojewskij in den Brüdern Karamasow stellen, unterscheidet, wo die Unschuld der Opfer die Frage zuspitzt. Oder von der Frage nach Gott angesichts der Shoah, die in ihrem unfassbaren Ausmaß die Deutungen radikal in Frage stellt, die das jüdische Volk im Lauf der Geschichte für seine leidvollen Erfahrungen gefunden hat8, und auch siebzig Jahre danach – vor allem im deutschen Sprachraum – den Denkrahmen für jedes Nachdenken über die Theodizeefrage bildet.

      In der heutigen Zeit, in der Millionen Menschen als Folge einer ungerechten politischen und wirtschaftlichen Weltordnung zugrunde gehen, könnte man sagen, die Leiden alter Menschen in österreichischen Pflegeheimen wären ein vergleichsweise harmloses Problem. Das mag in globaler Sicht stimmen. Es ist aber immer ein Mensch, der leidet und hofft und betet. Im Rahmen dieser Arbeit sind es die alten Menschen mit Demenz in Pflegeheimen.

      Das Spezifische der Frage nach Gott im Zusammenhang mit dem Altwerden und dem Verlust der geistigen Kräfte scheint mir in der Spannung der Begriffe ‚Vergessen‘ und ‚Erinnern‘ zu liegen, die darum den Titel dieser Arbeit bilden. Im Buch Jesaja und im Buch der Psalmen gibt es bekannte, sehr berührende Stellen, in denen (alte) Menschen Gott anrufen, sie nicht zu verlassen, und Gott ihnen das verspricht:

      Jes 46,4: „Ich bleibe derselbe, so alt ihr auch werdet, bis ihr grau werdet, will ich euch tragen. Ich habe es getan, und ich werde euch weiterhin tragen, ich werde euch schleppen und retten.“ (Vgl. Ps 71,18; Jes. 49,15)

      Oder Ps 27:10 „Wenn mich auch Vater und Mutter verlassen, der Herr nimmt mich auf.“

      Eine alte Frau hält ihre Tasche fest, in die sie alles gepackt hat, was sie zu brauchen glaubt. Am Beginn des Demenzprozesses spürt sie, dass sie immer vergesslicher wird. Ihr ganzes Bemühen ist darauf gerichtet, dass es niemand bemerken soll. Einige Monate, vielleicht Jahre später hat sie vergessen, wer sie ist, erkennt ihren Sohn nicht mehr und spricht unverständliche Sätze. Noch später liegt sie im Bett, es ist nicht mehr möglich, sie in einen Rollstuhl zu setzen. Sie streckt ihre Arme aus und ruft nach ihrer Mutter. Ihre Mutter hat sie schon lange verlassen: Vor vielen Jahren ist sie gestorben. Daran kann die alte Frau sich nicht mehr erinnern, fühlt sich wie ein verlassenes Kind.

      Der zweite und dritte Teil (II, III) beschäftigen sich mit konkreter Liturgie in österreichischen und deutschen Pflegeheimen und ähnlichen Einrichtungen, die ich besucht habe. Ich verwende den Ausdruck ‚Pflegeheim‘ bewusst unscharf als Sammelbegriff für Einrichtungen, in denen pflegebedürftige Menschen über einen längeren Zeitraum, in den meisten Fällen bis zum Tod, betreut werden. Ich problematisiere das Wort ‚Pflegeheim‘ in dieser Arbeit nicht. Der Begriff ‚Heim‘ ist durch katastrophale Zustände in Kinder- und Jugendheimen, aber auch Altenheimen in der Vergangenheit belastet. Die Aufarbeitung dieser oft verbrecherischen Zustände und die Bemühungen um Verbesserungen sind notwendig. Die Bemühungen um Verbesserungen müssen weitergeführt werden, auch die Diskussion darüber, ob solche Einrichtungen heute überhaupt noch zeitgemäß sind, ist zu führen.9 Wenig halte ich von beschönigenden Umbenennungen. Ein Heim wird nicht alleine dadurch besser, dass es Seniorenresidenz, Pflegewohnhaus oder Geriatriezentrum genannt wird. Wenn ‚Heime‘ für pflegebedürftige Menschen wirklich das sind, was das Wort bedeutet, nämlich Orte der Geborgenheit, Sicherheit, an denen Leib und Seele sich beheimatet fühlen können, wird es nicht mehr nötig sein, ständig neue Bezeichnungen zu suchen.

      Teil II behandelt verschiedene praktische Themen der Liturgie in Pflegeheimen. Es geht um Räume, in denen Gottesdienste gefeiert werden, um verschiedene Formen von Gottesdiensten oder die Bedeutung von Musik und Symbolen für die Feier von Gottesdiensten mit Menschen mit Demenz.

      Teil III stellt die Frage, welche Rolle liturgische Angebote im Rahmen der Institution spielen, ob – und wenn ja, in welchem Sinn – sie notwendiger Bestandteil eines umfassenden Verständnisses von Pflege und Betreuung sind.

       Methode

      Papst Franziskus sagt in Evangelii gaudium 234-235 über das Verhältnis von Idee und Wirklichkeit: „Die Wirklichkeit steht über der Idee. Die von der Wirklichkeit losgelöste Idee ruft wirkungslose Idealismen und Nominalismen hervor, die höchstens klassifizieren oder definieren, aber kein persönliches Engagement hervorrufen. Was ein solches Engagement auslöst, ist die durch die Argumentation erhellte Wirklichkeit.“10 Diesem Gedanken fühle ich mich methodisch verpflichtet.

      Die Beschäftigung mit der Frage, was demenzgerechte Liturgie in Pflegeeinrichtungen heute ausmacht, basiert auf einer qualitativen empirischen Forschung in zwei Schritten. In einem ersten Schritt habe ich die zuständigen Referentinnen und Referenten für Seelsorge in Altenheimen in österreichischen und deutschen Diözesen angeschrieben und sie darum gebeten, einen kurzen Fragebogen an die hauptamtlichen Seelsorger und Seelsorgerinnen in diesem Bereich zu schicken.11

      Die Rücklaufquote dieser Umfrage war gering: Es kamen aus Österreich acht Antworten von Pflegeheimseelsorgerinnen und –seelsorgern (einige Fragebogen kamen von anderen Personen beantwortet zurück, diese habe ich bei der Auswertung nicht berücksichtigt), davon einer aus der Diözese Innsbruck, zwei aus der Diözese Graz-Seckau und fünf aus der Erzdiözese Wien.

      Direkt aus der Zielgruppe meiner Befragung kamen aus Deutschland nur fünf Antworten, obwohl ich mich bemüht habe, alle zuständigen diözesanen Stellen zu kontaktieren – eine aus Augsburg, eine aus Würzburg, eine aus Bentheim (Diözese Osnabrück), eine aus Köln, und eine aus Aachen.12

      In einem zweiten Schritt habe ich Gottesdienste in Einrichtungen besucht und Gespräche mit an der Gestaltung beteiligten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen geführt. Insgesamt war ich in zwölf Institutionen, drei in Deutschland und neun in Österreich. Ich habe dabei acht Gottesdienste besucht und vierzehn Gespräche geführt und protokolliert. Meine Gesprächspartnerinnen und -partner waren neun hauptamtliche katholische Seelsorgerinnen und Seelsorger – unter ihnen ein Priester –, sowie ein pensionierter Priester, der in dem Heim wohnt und priesterlichen Dienst versieht, zwei Ärzte, je eine Musiktherapeutin, eine Sozialbegleiterin und СКАЧАТЬ