Название: Organisationskultur der katholischen Kirche
Автор: Paul F. Röttig
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
isbn: 9783429063337
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Bevor die Konzilsväter in der Pastoralkonstitution auf den Atheismus im Allgemeinen und im Besonderen zu sprechen kommen, fokussieren sie noch die Würde des sittlichen Gewissens (GS 16) und die hohe Bedeutung der menschlichen Freiheit (GS 17). In Bezug auf die organisationskulturellen Fragestellungen dieser Arbeit spielen sowohl sittliches Gewissen als auch menschliche Freiheit im Zusammenleben und gemeinsamen zielgerichteten Handeln einer Organisation eine essentielle Rolle. Gewissen muss sich (weiter)bilden, will es nicht irregehen oder abstumpfen. Und mit einem solchen gebildeten Gewissen vermag der Christ eine Brücke bauen zum Gewissen anderer Menschen, die zwar Christus nicht (an)erkennen, aber ihrer inneren Stimme gehorchen, die ihnen mitteilt, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen. Eine solche Prämisse genügt oft in einer menschlichen Organisation als erster bewusster Schritt, divergierende Meinungen ins Lot zu bringen. So wie die menschliche Person kann auch eine Organisation mit einem abgestumpften Gewissen ihre Würde verlieren, was nicht selten in blinder Willkür endet (GS 16). Die Vorausbedingung des Hinwendens des Menschen zum Guten ist seine von Gott gewollte Freiheit, die damit zur unabdingbaren Würde seiner selbst wird. Blinden inneren Drang oder bloßen äußeren Drang zu einem gewissen Handeln bezeichnen die Konzilsväter als einer Person unwürdig, gleichgültig ob sie Mitglied der Kirche ist oder nicht. So stellt sich auch in diesem wesentlichen Attribut menschlichen Lebens heute die Frage, wie viele Organisationen ihren Mitarbeitern oder Mitgliedern in einer bis in die kleinsten Details regulierten Arbeitsumwelt ihre persönliche Freiheit nicht nehmen. Diese Frage müssen sich auch die Kirche und die von ihr abhängigen Organisationen gefallen lassen.
Die von Gott initiierte und gewollte Würde des Menschen braucht ständiges Ringen (LG 48), nicht nur in der Welt, auch in der Kirche, die nicht mit ihr identisch ist, aber die Gestalt dieser Welt trägt, mahnte der steirische Caritasdirektor Franz Küberl im März 2015 in seinem Festvortrag bei der Verleihung des Menschenrechtspreises des Landes Steiermark ein. Er spricht von einer „‘Verwertung„ des Menschen auf allen Ebenen“ des heutigen Lebens im Gegensatz zu „seinen geistigen Werten, von der Freude an der Entwicklung des eigenen kreativen Potentials – vom Gesamtkunstwerk Mensch, dem vor allen Nutzungs- und Verwertungsstrategien Würde und Einzigartigkeit zukommt.“28 Schaffung und Wahrung von Gerechtigkeit, Menschenwürde und -rechten seien die Aufgaben der Staaten, für deren Gestaltung jeder einzelne Mensch mit verantwortlich ist.
Menschenwerte wie Glaubwürdigkeit, Toleranz, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Dienst am Nächsten, Würde und Rechte aller Menschen sind jedoch nicht auf die systemisch-gesellschaftliche Ebene begrenzt, sondern erheben auf- und absteigenden kaskadenförmigen Anspruch genauso auf politische, soziale und kirchliche Organisationen und somit auf den einzelnen Menschen als Person. Konflikte entstehen dort, wo menschliche Werte auf einer dieser Ebenen mit Füßen getreten werden, das mag die persönliche Wertedimension tangieren, aber auch die institutionell-organisatorische und die gesamte gesellschaftliche Kultur.
Erst im letzten Artikel des ersten Kapitels der Pastoralkonstitution kommen die Konzilsväter auf Christus, den neuen Menschen zu sprechen, „in dem allein ‚sich das Geheimnis des Menschen wahrhaft aufklärt„ (GS 22), freilich in das Geheimnis Gottes hinein.“29 Das verlangt von jedem einzelnen Christen und jedem menschlichen Kollektiv, das sich christlich nennt, die unbedingte Nachfolge Christi.
1.5.3 Pastoral-biblische Arbeitsinitiativen
Wie und auf welche Weise die Kirche Jesu Christi als Communio auf ihrem Pilgerweg ans Ziel gelangt, d.h. auf welchen Glaubenswerten und Wertvorstellungen sie dahinschreitet und welche Denk-, Verhaltens- und Handlungsweisen sie daraus adaptiert, kann nicht ohne Konsultation des Lebens Jesu geschehen, das von authentischen Zeugen im Neuen Testament tradiert wird.
„Jesus verkündete das Reich Gottes und gekommen ist die Kirche.“30 Die Hermeneutik dieser von zeitkritischen Kreisen der katholischen Kirche heute gerne argumentativ verwendeten Worte des französischen Priesters und Theologen Alfred Loisy (1857–1940) kann in zwei kontroverse Richtungen deuten. So wird diese Aussage einerseits dahin interpretiert, dass die Wirklichkeit des von Jesus verkündeten Reiches Gottes von sozial-kirchlichen und somit menschlichen, bewussten und unbewussten Struktur- und Kulturelementen im Laufe der zweitausendjährigen Kirchengeschichte überlagert wurde. Andrerseits – und das war wohl die ursprüngliche Intention31 des gewiss hierarchie-kritischen Modernisten-Theologen Loisy – sah dieser „in der Umwandlung der Reichshoffnung zur Kirche einen legitimen geschichtlichen Vorgang“.32 Diese Worte antizipieren gleichsam die vom Zweiten Vatikanischen Konzil in der Kirchenkonstitution formulierte Ekklesiologie: „Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (LG 8). Was der Theologe offen kritisierte, war das Nachahmen oder sogar das Kopieren weltlicher Macht- und Regierungsstrukturen durch die Kirche Jesu Christi.33
Der Fokus dieser Arbeit wird die Kirche, beziehungsweise werden Teilorganisationen dieser Kirche, als „die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft“, also „die sichtbare Versammlung“ (LG 8) sein, deren Betrachtung und Analyse jedoch „die geistliche Gemeinschaft“, nämlich „die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche“ (LG 8) mit ihrem jesuanischen Sendungsauftrag miteinschließen und mitdenken muss. Da die Kirche jedoch nicht diese Welt bedeutet, sondern „sie [die Gläubigen] in dieser Welt auch den Tempel Gottes errichten können“ (GS 21), bedarf es einer authentischen Übersetzung des in der menschlichen Welt Werte-vollen für die Kirche und in diese Kirche hinein, denn „… diese Gemeinschaft [der Kirche erfährt] sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden“ (GS 1).
Die Erkenntnis der Bischöfe und Theologen des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass die Welt mit ihren wahren Werten Lehrmeisterin der Kirche Jesu Christi sein kann, macht der kirchenzentrierten Sicht des 19. und 20. Jahrhunderts ein Ende:
Mit großer Achtung blickt das Konzil auf alles Wahre, Gute und Gerechte, das sich die Menschheit in den verschiedenen Institutionen geschaffen hat und immer neu schafft. Es erklärt auch, dass die Kirche alle diese Einrichtungen unterstützen und fördern will, soweit es von ihr abhängt und sich mit ihrer Sendung vereinbaren lässt (GS 42).
Wenn Hugo Rahner seine Rede „am hohen Festtag der deutschen Katholiken“ im Jahr 1956, also sechs Jahre vor dem Beginn des Zweiten Vatikanums, mit dem markanten Satz beginnt „Die katholische Kirche ist ein Haus voll Glorie, weit über alle Lande dieser Erdenwelt“34, schimmert in diesen Worten noch die über alles erhabene und petrifizierte Kirche der Vergangenheit durch, die von der Welt nur Negatives, aber nichts Positives lernen kann.35 Aber schon im Titel dieser später publizierten Ansprache klingt die Realität an: „Die Kirche, Gottes Kraft in menschlicher Schwäche“36, ein Gedanke, den Hugo Rahner dann mit den Worten konkretisiert: „Die heilige Kirche Gottes ist in Kraft ihrer Nachbildung des Herrenleibes hienieden immer beides: Kraft СКАЧАТЬ