Название: Unheilvolle Vergangenheit
Автор: Alexander Pelkim
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783429065171
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Seit seiner Gefangennahme verstand Wilhelm die Welt nicht mehr. Bis zum Schluss hatte er gehofft, dass sich alles als ein großer Irrtum herausstellen würde. Erst der Schuldspruch öffnete ihm endgültig die Augen. Jetzt erst wurde ihm so richtig bewusst, wo er die nächsten Jahre verbringen würde. Er bat seinen Bruder, sich um Clara und die Kinder – deren Wohlergehen seine größte Sorge war – zu kümmern in dem Bewusstsein, dass sein Halbbruder dafür eigentlich nicht der Richtige war.
Hatte der Verlust des Verlobten Elisabeth Hollbein schon schwer getroffen, so wurde die Tatsache dadurch verstärkt, dass der Täter unter ihrem Dach gewohnt hatte. Nur wenige Tage nach dem Schuldspruch legte der Bauer Clara nahe, die Stellung bei ihm aufzugeben. Zu sehr würde seine Tochter bei ihrem Anblick und dem ihrer Kinder an den Mörder ihres Liebsten erinnert. Da sie keine neue Anstellung bekam, siedelte Clara Zirner schweren Herzens in eine der Iphöfer Armenwohnungen um. Keiner wollte der Lebensgefährtin eines Mörders Arbeit geben.
Überraschenderweise nahm Ferdinand die Bitte seines Halbbruders – sich um Clara und die Kinder zu kümmern – durchaus ernst. Leider färbte die Verurteilung seines Bruders auch auf ihn ab. Mit dem Namen Burgecker bekam er nicht mal mehr als Tagelöhner eine Beschäftigung. Tagelang beratschlagte Wilhelms Halbbruder mit Clara über die neue Lebenssituation, bis ihm der Ausspruch eines Bauern, bei dem er um Arbeit nachgefragt hatte, die Idee lieferte. »Hier findet der Bruder eines Schwerverbrechers keine Arbeit mehr, am besten du wanderst aus.«
Auswandern – der Gedanke ließ Ferdinand nicht mehr los. Wochenlang besprach er mit Clara das Thema, redete auf sie ein, doch mitzukommen. Zuerst lehnte sie vehement ab, da sie auf Wilhelm, den Vater ihrer Kinder, warten wollte, bis der wieder aus der Haft entlassen würde. Als Ferdinand ihr die lange Zeit von 20 Jahren vor Augen hielt, begann sie sich langsam mit dem Gedanken vertraut zu machen. Aber wohin sollten sie auswandern? Für Ferdinand kam eigentlich nur Amerika in Frage. Er hatte schon einiges von dem Land »mit den unbegrenzten Möglichkeiten« gehört. Man könne ja wieder zurückkommen, wenn Wilhelm seine Strafe abgesessen habe, oder ihn nach Amerika nachholen, argumentierte Ferdinand. So langsam nahm der Plan der Auswanderung Gestalt an und Clara war nicht mehr abgeneigt, nachdem sie bei der Arbeitssuche weiterhin nur Absagen und Ablehnung erfuhr. Nun blieb nur noch die Frage: Woher das Geld für die Überfahrt nehmen?
Überraschend erhielten sie Hilfe von der Stadt Iphofen. Der Magistrat unterstützte hin und wieder Auswanderungspläne und übernahm die Kosten der Bahnfahrt und der Schiffspassage. Man wollte damit soziale Spannungen entschärfen und die Armenkasse dauerhaft entlasten. So entschieden die Stadtväter – unter besonderer Fürsprache von Ludwig Hollbein – im Falle von Ferdinand Burgecker und Clara Zirner, ihr Vorhaben zu finanzieren. An einem nasskalten trüben Tag Anfang November des Jahres 1853 machte sich Ferdinand Burgecker zusammen mit Clara und den beiden Kindern auf den Weg. Zuerst mit dem Pferdewagen und dann mit der Bahn ging es Richtung Norden. Ihr Ziel war Bremen, von wo aus sie ihre Reise nach Amerika antreten wollten.
Ein letztes Mal hatte Clara alles darangesetzt, Wilhelm im Gefängnis besuchen zu können, bevor sie auf die große Reise gingen. Aufgrund ihrer sozialen und finanziellen Situation wurde es ein langer und beschwerlicher Weg bis nach Kaisheim ins Donau-Ries, wo Burgecker im dortigen Zuchthaus seine Strafe absitzen musste. Natürlich war er zuerst alles andere als begeistert, als er von den Auswanderungsplänen hörte. Ferdinand, der Clara begleitete, und auch Clara selbst schilderten ihm die schwierigen Lebensumstände in Iphofen, die sie seit seiner Verurteilung hatten. Trotzdem wurde es für Wilhelm schwer, zu akzeptieren, dass er seine Partnerin und seine Kinder womöglich nie mehr sehen würde, obwohl Ferdinand und Clara ihm versprachen, ihn nach der Entlassung nach Amerika nachzuholen oder zurückzukommen. Beides Vorsätze, die schwer zu verwirklichen waren, wie sich nicht nur der inhaftierte Burgecker eingestehen musste. Es wurde ein wehmütiger Abschied von Wilhelm. Weniger Tränen weinten sie ihrer alten Heimat nach, als das Fuhrwerk über das Kopfsteinpflaster zum Tor hinausrumpelte.
Ein Todesfall
»Opa ist verunglückt! Ich glaube, er ist tot!« Mit diesen Worten stürmte ein schlanker junger Mann atemlos ins Zimmer. Die Worte galten einer älteren korpulenten Person hinter einem Schreibtisch. Der Mann erhob sich trotz seiner Körperfülle so schwungvoll, dass der Bürostuhl an die Wand knallte, stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab und schaute den jungen Mann entsetzt an.
»Wie? … Wo? … Was ist passiert?«, stammelte er dann irritiert.
»Ich habe ihn im untersten Gewölbekeller gefunden. Er muss die Treppe hinuntergestürzt sein.«
»Hast du die Rettung gerufen?«
Aufgeregt nickte der junge Mann. »Ja, ja, selbstverständlich.«
Eilig kam der Ältere hinter dem Schreibtisch hervor. »Warte du im Hof, bis die Rettungskräfte kommen, und zeige ihnen den Weg, ich werde nach Vater sehen.«
Bei den beiden Männern handelte es sich um den derzeitigen Chef des bekannten Iphöfer Weingutes Birkner, Hermann Birkner, und seinen Sohn Stefan, der die schreckliche Nachricht überbracht hatte. Der Siebenundfünfzigjährige mit dem spärlichen Haarkranz und dem stattlichen Bauchumfang hastete aus dem Zimmer, gefolgt von seinem Sohn. Beide stürzten aus dem Haus und wandten sich nach verschiedenen Richtungen. Hermann rannte, so schnell es sein Alter und sein Körpergewicht zuließen, auf die Hallen zu und Stefan zur Hofeinfahrt, um das Sanitätsauto und den Notarzt in Empfang zu nehmen.
Mit Schwung riss Hermann Birkner die Hallentür auf und lief an einer Weinpresse, gestapelten Holzkisten, Behältern und Bottichen vorbei zum Treppenabgang, der in die zwei Stockwerke tiefen Gewölbekeller führte. Sich krampfhaft am eisernen Geländer festhaltend nahm er hin und wieder zwei Stufen auf einmal. Feuchtkalte Luft schlug ihm entgegen, als er sich abwärtsbewegte. Er beachtete weder die Edelstahltanks noch die im Weg stehende Filteranlage oder die Schläuche, die sich an den Tanks entlangschlängelten. Hier unten waren die Vorbereitungen für den Ausbau der Jungweine im Gange. Die einen Sorten lagerten in hochmodernen Tanks aus Edelstahl, andere in traditionellen Holzfässern. Birkner erreichte die Treppe, die in die zweite Gewölbeetage führte, und sah schon von oben seinen Vater liegen. Die verdrehte Körper- und Kopfhaltung ließ nichts Gutes erahnen. Hastig stieg er hinab. Laut keuchend erreichte er das untere Gewölbe und beugte sich über seinen Vater. Mit Zeige- und Mittelfinger suchte er dessen Schlagader am Hals zu ertasten, so wie er es vor Jahren mal in einem Rotkreuz-Kurs gelernt hatte, aber er konnte nichts erfühlen. Betroffen von der Tatsache, dass sein Vater vermutlich nicht mehr lebte, erhob er sich und atmete heftig aus. Viel Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht, als er von oben Stimmen und eilige Schritte hörte. Stefan Birkner tauchte auf, hinter ihm der Notarzt und zwei Sanitäter. Hermann und sein Sohn sahen sich schweigend an, während sich die Rettungskräfte um den Verunglückten kümmerten.
»Weiß es Mutter schon?«, fragte Hermann Birkner schließlich.
Stefan schüttelte den Kopf. »Vermutlich nicht, sie bereitet eine Weinprobe vor. Aber dass etwas passiert ist, war wegen der Sirene und dem Blaulicht nicht zu überhören.«
»Dann geh und informiere sie.«
Im selben Moment vernahm man Schritte von hochhackigen Schuhen im Gewölbe darüber. Das pausbackige Gesicht einer Frau, umrahmt von dunkelblonden schulterlangen Haaren, tauchte an der Treppe auf. »Was ist denn …? Ach herrje, Karl!«, rief sie entsetzt, nachdem sie die Situation erkannt hatte. »Ist er …?«
Bevor jemand antworten konnte, hob der Notarzt seinen Kopf und sah in die Runde. »Tut mir leid, da ist nichts mehr zu machen. Wahrscheinlich Genickbruch. Er muss sofort tot gewesen sein.«
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