Название: Urknall, Weltall und das Leben
Автор: Harald Lesch
Издательство: Bookwire
Жанр: Математика
isbn: 9783831257683
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Lesch: Ja, ja. Wir haben es also mit einer Theorieentwicklung zu tun, die, abgesehen von Kopernikus, der die Erde ganz aus dem Zentrum des Weltbildes herausgenommen und dafür die Sonne reingestellt hat, abgesehen von dieser kopernikanischen Revolution eher über Reformen als über Revolutionen vonstattengeht.
Gaßner: Ein heliozentrisches Weltbild gab es übrigens bereits 1800 Jahre vor Kopernikus. Aristarch von Samos hatte es entwickelt, basierend auf Überlegungen von Heraklit und Philolaos. Beobachtet man über Monate den nächtlichen Lauf des Mars vor dem Fixsternhimmel, so scheint er regelrechte Schleifenbewegungen zu vollziehen. Dieses Umkehren und Zurückfliegen, die sogenannte retrograde Bahn des Mars, hatte sie stutzig werden lassen.
1.18 Im Mittelpunkt links steht die Sonne, umkreist von der blauen Erde und dem roten Mars. Betrachtet man von der Erde aus an sieben charakteristischen Punkten die Projektion des Mars auf den Fixsternhimmel, so ergibt sich eine Schlingerbewegung, die sogenannte retrograde Marsbahn.
Lesch: Dann kam Ptolemäus mit seiner Epizykeltheorie und setzte die Erde wieder in den Mittelpunkt. Wie man sieht, gibt es zu jedem beliebig komplizierten physikalischen Problem eine ganz einfache und zugleich völlig falsche Erklärung. Die Epizykeltheorie war noch nicht mal einfach.
Gaßner: Die Naturwissenschaften durchlaufen einen stetigen Anpassungsprozess, in dem sich kleine Mutationen der Theorien als erfolgreicher durchsetzen. Nur von Zeit zu Zeit ereignet sich Spektakuläres, ausgelöst durch schlagartig drastisch veränderte „Lebensbedingungen“. Einen solchen „Meteoriteneinschlag“ stellten die Beobachtungsdaten von Edwin Hubble dar. Damals starben ganze Spezies an Theorien aus. An ihre Stelle trat ein neues Weltmodell – das expandierende Universum – das, wiederum mit entsprechenden Anpassungen, bis zum heutigen Tag zahllose Bestätigungen erfuhr.
Lesch: Die wichtigste und weitreichendste Bestätigung war die Entdeckung der Kosmischen Hintergrundstrahlung. Wenn das Universum in seiner Geburtsphase tatsächlich sehr heiß war, dann musste diese Strahlung auch heute noch nachweisbar sein. Die amerikanischen Physiker Ralph Alpher und Robert Hermann hatten diese Überlegung bereits 1948 angestellt und sogar angegeben, dass die Strahlung aufgrund ihrer extremen Rotverschiebung mittlerweile im Mikrowellenbereich läge, bei einer Temperatur von etwa fünf Kelvin.
Gaßner: Auch der russisch-amerikanische Kernphysiker George Gamov hatte mehrere Arbeiten zu diesem Thema verfasst. Diesen Prognosen wurde allerdings kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Die eigentliche Entdeckung war purer Zufall. An den Bell Laboratories in New Jersey waren zwei junge Ingenieure mit der Eichung einer 15 Meter großen Hornantenne zu Gange, die Radiosignale aus der Milchstraße untersuchen sollte. Arno Penzias und Robert Wilson kämpften mit einem rätselhaften Rauschen im Mikrowellenbereich bei 7,35 Zentimeter Wellenlänge, das isotrop, also von allen Seiten gleichermaßen registriert wurde. Nachdem sie ein Jahr lang alle potentiellen Fehlerquellen ausgeschlossen und in ihrer Verzweiflung sogar den Taubenkot aus der Hornantenne entfernt hatten, suchten sie Rat bei der nahen Universität Princeton. Dort erkannte man schnell, dass es sich um die Kosmische Hintergrundstrahlung handelte.
Lesch: Ironie des Schicksals. In Princeton hatte im Frühjahr 1964 ein Forscherteam um Robert Dicke bereits seinerseits eine Antenne gebaut, um gezielt nach der Hintergrundstrahlung zu suchen. Penzias und Wilson waren ihm haarscharf – und fast muss man sagen versehentlich – zuvorgekommen und haben 1978 den Nobelpreis abgeräumt.
Gaßner: Höchstbrisant auch deshalb, weil Robert Wilson ein enger Freund von Fred Hoyle war, die beiden hatten sogar gemeinsam studiert. Nun sollte ausgerechnet sein größter Triumpf die Modelle eines statischen Universums, die Hoyle so leidenschaftlich vertrat, vom Tisch wischen. Eigentlich ist die Kosmische Hintergrundstrahlung ganz einfach nachzuweisen. Zieht man den Antennenstecker vom Fernseher, dann ist ihr Anteil am rauschenden Bild über ein Prozent. Man erkennt sie daran, dass sie keinerlei Abhängigkeit von der Position irgendeines Objekts am Himmel zeigt, wie beispielsweise der Sonne oder der Milchstraße. Ein derart gleichmäßiges und isotrop eintreffendes Signal stammt offensichtlich nicht aus unserer Galaxie.
1.19 Arno Penzias (rechts) und Robert Wilson (links) vor der 15 Meter großen Hornantenne in New Jersey.
Lesch: In den Folgejahren entwickelte sich ein regelrechter Wettlauf, wer als erster kleinste Abweichungen in der Isotropie der Strahlung nachweisen konnte. Irgendwelche kleinste Abweichungen musste es doch gegeben haben, aus denen später Sterne und Galaxien heranwachsen konnten.
Gaßner: Die ersten Messgeräte wurden mit Ballonen in große Höhen gebracht, um den Einfluss der Erdatmosphäre zu reduzieren. Später wurden eigens Satelliten in die Umlaufbahn geschossen, die tatsächlich Abweichungen in der Temperatur der Kosmischen Hintergrundstrahlung von 5 · 10-5 Kelvin messen konnten. Das Licht aus diesen Richtungen war geringfügig stärker rotverschoben. Diesen zusätzlichen Energieverlust hatten die Photonen beim Verlassen des Gravitationsfeldes einer winzig kleinen Verdichtung erlitten. Eine Schwankung in der Temperatur der Kosmischen Hintergrundstahlung war also gleichbedeutend mit einer Dichteschwankung im frühen Universum. Die Saatkörner der Galaxien waren gefunden. Beim Thema „Strukturbildung“ werden wir genauer auf diesen Zusammenhang eingehen.
Lesch: Für derartige Präzisionsmessungen mussten die Aufnahmen natürlich um jede potentielle Störquelle bereinigt werden, d. h. alle bekannten Quellen für Mikrowellenstrahlung wurden ermittelt und abgezogen. Selbst unsere Bahnbewegung um die Sonne und deren Rotation in der Milchstraße wurden herausgerechnet, weil sie ebenfalls zu Rot- und Blauverschiebungen des Spektrums führen.
Gaßner: Das Ergebnis hat eine neue Ära der Kosmologie eingeläutet: die Präzisionskosmologie. Stephen Hawking hat die Messung der Temperaturabweichungen in der Hintergrundstrahlung in einem Interview mit der London Times als „größte Entdeckung des Jahrhunderts, wenn nicht sogar aller Zeiten“ tituliert. Entsprechend war auch dafür ein Nobelpreis fällig: 2006 an George Smoot und John Mather.
Lesch: Einschneidende Entdeckungen dieser Art sind allerdings in letzter Zeit eher rar geworden. Je weiter sich die Gegenstände der modernen Forschung von unserer anschaulichen makroskopischen Welt entfernen, umso schwerer fällt es uns, entsprechende Experimente zu entwickeln, d. h. geeignete Fragen an die Natur zur Überprüfung der Theorien zu stellen.
Gaßner: Denk nur an den verzweifelten Versuch, in einem 27 km langen unterirdischen Ring aus supraleitenden Magneten, die konstant nahe dem absoluten Temperatur-Nullpunkt gehalten werden müssen, die Winzigkeiten zweier Protonen wohldefiniert zur Kollision zu bringen. Ihre Energie beträgt dabei jeweils 7 TeV (Tera-Elektronenvolt), oder etwas anschaulicher: Pro Sekunde machen sie 11.000-mal die Runde. Das entspricht 99,9999991 Prozent der Lichtgeschwindigkeit, d. h. wir liegen nur noch 10 km/h darunter.
Lesch: Du sprichst vom Large Hadron Collider (LHC), dem gewaltigen Aufbäumen der Experimentalphysiker, die notwendigen Energien bereitzustellen, um noch einmal einen Vorhang zur Seite zu schieben und einen Blick auf das Reich des Allerkleinsten zu erhaschen. Noch einmal will man einen Schritt näher an den Urknall heranrücken.
1.20 Der 27 km lange, unterirdische Large Hadron Collider (LHC) in der Schweiz und Frankreich.
Gaßner: Wir haben in den Gewächshäusern der theoretischen Physik unter künstlichen Bedingungen eine Vielzahl exotischer Pflanzen herangezogen. Nur gelingt es uns nicht mehr, sie vor die Tür zu stellen und unter natürlichen Bedingungen zu erproben. Der naturwissenschaftliche Evolutionsmechanismus ist an dieser Stelle ins Stocken geraten und unser Gewächshaus droht aus allen СКАЧАТЬ