Название: Jahrhundertwende
Автор: Wolfgang Fritz Haug
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783867548625
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Eine Ausflucht: Die Krankheiten greifen um sich. Pawlow, der Regierungschef, ist erkrankt und durch seinen Vize ausgetauscht worden; auch Besmertnich, der Außenminister, hat sich für zwei Tage krank gemeldet, wie es, merkwürdig, in den Nachrichten hieß. Sie warten ab, wer gewinnt.
Lange ging es immer weiter wie bisher, und immer sagte man sich, es kann nicht mehr so weitergehen. Heiner Müller: »Gorbatschows Sturz ist natürlich bedauerlich, aber er war leider vorauszusehen. Er hat sich zu lange zwischen Skylla und Charybdis bewegt, ohne sich wirklich entscheiden zu können. Es gab auch nur schwierige Alternativen.« Hier vertut sich Müller in den Mythen. Wer sich zwischen Skylla und Charybdis befindet, muss den Versuchungen sowohl der unmittelbaren Gewalt- als auch der Gefallenslösungen widerstehen, statt sich zwischen ihnen zu entscheiden. Eigentlich ist es genau das, was G getan hat, den Weg zwischen Skylla und Charybdis zu steuern.
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Ich soll auf einer Kundgebung der PDS vor der sowjetischen Botschaft sprechen. Biete stattdessen einen Artikel fürs ND an.
21. August 1991 (2)
Tränen bei der Nachricht vom Scheitern des Staatsstreichs und der Rückkehr Gorbatschows. Und das, wie eine symbolische Revanche, am Jahrestag des Einmarschs in Prag 1968. »Freude« zu sagen, wäre untertrieben. Der artesische Brunnen des Gemeinwesens, Emotionen, die unter großem Druck eingeschlossen und normalerweise von der Oberfläche verbannt sind.
Die vielen Nachrufe auf G von gestern sind – von gestern.
Andrej Gurkow von Moscow News, der gestern sich um die Chance der Rückkehr in die Sowjetunion geredet zu haben schien, sprach aus, was auch mir durch den Kopf gegangen war: endlich haben die Moskauer, die Russen, hat das Volk einen Erfolg erlebt, nachdem seit langem alles immer nur das depressive Gefühl der Misere vermittelt hatte; dieses Erfolgserlebnis wird neue Energien freisetzen.
Otto Lazis, blass, mit depressiv hängenden Gesichtszügen, erklärte mit ausdrucksloser Stimme die KPdSU für »nicht mehr existent«. Seine Argumente: Die Partei wurde nicht konsultiert vor dem Putsch, war also nicht aktiv involviert, schwieg dann fast zwei Tage, bis endlich heute Iwaschko forderte, mit Gorbatschow zusammenzutreffen. Dieser war der Mann des Kompromisses, sagt auch Lazis, und die Zeit der Kompromisse ist vorbei.
Der Staatsstreich ist gescheitert, weil, wie es heißt, von drei Divisionen zwei »zu Jelzin« übergelaufen seien. Ausgerechnet jener General Makaschow, dessen Allüren des Starken Mannes schon vor dem Parteitag Putschgerüchte genährt hatten, stellte sich »als Russe« zu Jelzin.
Meinen Freitag-Artikel übers Telefon im Züricher Alternativradio »LoRa« verlesen. Obwohl gestern geschrieben, war er ganz heutig.
22. August 1991
Die FAZ liest sich den Umsturz des Umsturzes in Moskau so zurecht: »Der Kommunismus ist besiegt«; »Das Volk […] stand auf«; »der Held von Moskau«, Boris Jelzin, hat jetzt »freie Bahn, mit den reformerischen Halbherzigkeiten, welche die Politik des sonst so verdienstvollen Gorbatschows kennzeichneten, Schluss zu machen« – offenbar durch Erzeugung einer Privatwirtschaft von Unternehmern und Besitzern. »Denn dies zeichnet sich bei allen Reformversuchen in Osteuropa immer deutlicher ab: Je größer die Restposten sind, die vom Realsozialismus in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mitgeschleppt werden, desto schlechter werden die Chancen eines raschen Wiederaufbaus« usw. (Fack im Leitartikel). Kreuzzug, x-te Folge: Sozialzersetzung (staatlich erzwungene Privatisierung). Versprechen: dann kommt das Wirtschaftswunder, dann wendet die unsichtbare Hand des Marktes rasch alles zum Guten. Derweil vertrustet sich der transnationale Kapitalismus weiter. Das blitzkriegartige Plattmachen der DDR-Wirtschaft wäre nur das Vorspiel. Nichts Eigenständiges käme hoch gegen die übermächtige Konkurrenz. Nur dass im weiten Russland riesige Gebiete verdumpfen würden. Und während in der winzigen DDR die bisherigen »Genossen« die Chance haben, entweder in Sozialrentner verwandelt zu werden oder in ganz normale Lohnarbeitende, deren Chefs zwar aus dem Westen kommen, aber zumeist Deutsche sind wie sie, also auch all dem unterworfen, was das Parlament an Sozialstaatlichem aushandeln mag, gibt es im Osten Europas, von den asiatischen Teilen der SU ganz zu schweigen, nichts davon. Die Rosinen aus jedem Kuchen werden vom Auslandskapital übernommen. Die ökonomische Gewalt, nunmehr dominanter Gewalttypus, kann nichts anderes sein als die der ökonomisch Gewaltigen: das sind heutzutage global planende komplexe Riesenapparate, Staaten nicht mehr im Staat, sondern quer zu den Nationalstaaten, eben transnationale Durchdringungen. Ihre Macht in einem Land ist desto größer, je geringer dessen politische Artikulationsmacht ist. Länder, die beides vereinen: strategische Knotenpunkte des transnationalen Kapitals und nationale Politikfähigkeit, die also den transnationalen Interessen einen »nationalen« Charakter aufzuprägen vermögen, bilden die Zentren dieser Weltordnung. In ihnen bildet sich eine strategische Allianz von Marktinteressen und national-demokratischen Interessen. Die machtgeschützte ›Naivität‹ ihrer Vertreter, ihre ignorante Selbstgerechtigkeit, ist eine wesentliche Bedingung ihrer imperialen Expansion. Indem sie den schwächeren Nationen oder Ländern ihr politisches System nahebringen, entfernen sie diese von der ökonomischen Fortüne, mit der sie locken. Wann immer die weniger Akkumulationskräftigen der Peripherie direkt nach dem politisch-ökonomischen Modell der Zentren greifen, verbauen sie sich den Weg zu eigenständiger ökonomischer Entwicklung, werden zu Absatzmärkten, Lieferanten von Ressourcen aller Art, dinglicher wie menschlicher, zum politisch unabhängigen ökonomischen Vasallengebiet. Ihr Status wird der der unabhängigen Abhängigkeit, der abnehmenden Zulieferer. Sie sinken aufs Niveau staatlicher Lohnunternehmer, denen hegemoniale Unternehmen von außen die terms of trade diktieren.
Auch die TAZ ließ »das Volk« dem Ruf Jelzins folgen. In Wirklichkeit kamen in Moskau nicht eben viele. Ihr Mut war ungeheuer wichtig, aber er war nur das Material, aus dem sonst, zum Beispiel 1973 in Chile, von der FAZ gefeiert, Märtyrer in Massen geschaffen werden. Die Repressionsmaschinerie wurde als finsteres Ornament der Drohung ausgefahren, und die Frage ist, wieso es bei der Drohung blieb. »Bisher«, schrieb Walter Süß in der TAZ (21.8.), »scheinen sie noch zu glauben, die bloße Drohung werde genügen.« Um (wenigstens vorübergehend) zu gewinnen, hätten die Putschisten »ihren bisherigen konservativ-zentristischen Kurs aufgeben und zu offener, massiver Repression übergehen« müssen. Süß hat recht, die bloße Drohung wirkte nicht mehr. Aber warum hat die Junta es bei ihr belassen? Vielleicht ist es nicht übertrieben zu sagen: im Militär hat sich die Auseinandersetzung entschieden – durch seine Spaltung. Und was hat diese bewirkt? War es das hervorgekehrte Russentum Boris Jelzins? Dann sollte sich die FAZ das Bejubeln »nationaler« Bewegungen nochmals überlegen: von ihnen ist zunächst Russland gefährdet, innerhalb dessen Grenzen sich die Proklamationen autonomer Gebiete multiplizieren. Russentum wird nicht vor großrussischem Chauvinismus schützen.
»Die Sowjetunion ist nie das geworden, was mit der Oktoberrevolution 1917 erreicht werden sollte.« (Johannes Grotzky, Herausforderung Sowjetunion. Eine Weltmacht sucht ihren Weg, München 1991) – Ganz recht, sagt Jasper von Altenbockum in seiner Rezension (FAZ von heute): »Sie ist wieder das, was sie schon immer war: ein absolutistisch verwaltetes Vielvölkerreich, eine Kolonialmacht, ein Völkerkerker.« Es sind, werden wir belehrt, hundertundfünf ethnische Gruppen und Völker. Wunderbares Material, um es zur Weltmarktsubalternität zu ›befreien‹.
Mit dem Rubel geht es wie seinerzeit mit der Mark der DDR, er fällt ins Bodenlose, als er noch 4 Pfennige brachte, wurde der Handel eingestellt, dem Angebot stand keine Nachfrage mehr gegenüber, und der Rubel wurde, zumindest in Berlin, unverkäuflich. Das war am Dienstag. Vermutlich drückten Fluchtgelder auf den Markt.
Gorbatschow СКАЧАТЬ