Название: Jahrhundertwende
Автор: Wolfgang Fritz Haug
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783867548625
isbn:
Die letzten beiden Tage im PDS-Milieu verbracht. Gastvortrag auf der Programmkonferenz. Das Übergewicht der Rentner. Das gebrochene Selbstbewusstsein. Der ehemalige Philosophieprofessor von der Humboldt-Universität, der sich mir gleich zweimal hinter einander als »abgehalfterter Philosoph« vorstellt. Seelsorge notwendig. Aber mit meinen Ideen von einem Neuanfang komme ich mir exotisch vor.
Abends bei einer Marx-Geburtstagsfeier des »Anti-Eiszeit-Komitees«, nominell wie vor einem Jahr, aber real welch ein Unterschied! Gysi erscheint nicht, ebenso wenig Altvater. Eine Psychologin, Martina Schönebeck, springt für den angekündigten Hans-Joachim Maaz (»Gefühlsstau«) ein, aus dem Publikum wird Käthe Reichel hochapplaudiert. Immerhin sitzt neben mir Ilsegret Fink, eine vorzügliche Pastorin, Heinrich Finks Frau, mit der ich die historisch-staatlichen Persiflagen vergleiche, die sich auf Christus bzw. auf Marx berufen. Sonst eine immer wieder versackende Diskussion. Es überwiegt das Bedürfnis, die derzeitige Misere auszudrücken, ja dem verlorenen Schutz nachzutrauern. Käthe Reichelt, die so oft gute Texte gut gesprochen und gespielt hat, verblüffte mich damit, welchen hilflosen Text sie nun mit der gleichen Leidenschaft vortrug. Sie sprach aus der geistigen Welt des Erich Honecker, eine Armenpolitik, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hat, und ich sagte ihr das. Nachher war sie plötzlich weg, und ich bereute, nicht noch einmal mit ihr gesprochen zu haben.
Übrigens soll die Ost-CDU jetzt für ehemalige SED-Mitglieder geöffnet werden.
In der FAZ ein Bericht von Petra Kolonko aus Pjöngjang, worin ich einiges aus meiner Erinnerung wiederfinde. Aber fahrlässig und bewusstlos eingenommene Imperialperspektive. Und Kolonko muss übertreiben: »Schulkinder sieht man in Pjöngjang gruppenweise im Stechschritt durch die Straßen laufen und dabei Marschlieder singen.« – Sie sollte mal selber den Stechschritt üben, um den Unterschied zu merken.
Anscheinend geht der Umbau der SU weiter und zwar mehr in Richtung auf einen Staatenbund als auf einen Bundesstaat. G wie ein vielseitig belagerter Moderator des Prozesses. Russland (und damit Jelzin) kriegt nun als Lohn fürs Einschwenken auf einen Kompromisskurs einen eignen Geheimdienst. Schewardnadse gibt G noch drei Monate. Entweder gelingt bis dahin die Weichenstellung für eine Rekonstruktion des gesellschaftlichen Lebens – oder G muss abtreten.
7. Mai 1991
Versprecher, den ich bei der Marx-Diskussion in der Humboldt-Universität aufschnappte: »die früheren Menschen der DDR«. Vielleicht gewollt, jedenfalls kennzeichnend für eine Stimmung.
8. Mai 1991
Michael Stürmers FAZ-Leitartikel ist »Der Kreml nach dem Golf« überschrieben, meint aber »Der Kreml nach Gorbatschow«. Der Historiker benützt bereits den raunenden Imperfekt des Erzählers: »Die erste Perestrojka kam, einschließlich Michael Gorbatschow, aus der Einsicht, dass ohne durchgreifende Modernisierung von Staat und Gesellschaft die Sowjetunion als Weltmacht abdanken müsse.« Hat die SU den Golfkrieg verloren? Ja, sagt Stürmer, mit »ihrer Technik von gestern« und ihrem Versuch, mittels eines diplomatischen Kompromisses den Krieg zu verhindern. Kurz, der Golfkrieg ist den Russen und diese sind der Welt damit auch vor-geführt worden, um zu zeigen, wer der Herr ist. Stürmer gibt sogar zu verstehen, das Abkommen zur deutschen Einheit sei vom Obersten Sowjet nur deshalb ratifiziert worden. Die BRD hat den Krieg gewonnen, auch diesen. Das Ganze läuft auf die Prognose hinaus, die militärische Niederlage werde, wie immer in der russischen Geschichte, »noch einmal in die Modernisierung von oben führen«.
13. Mai 1991
Gestern im Gorki-Theater »Mein Kampf« von Tabori. Unterhaltend, weil oft witzig und manchmal anrührend. Aber Tiefeleien ohne Tiefe; der Nazismus als Quatsch aus dem Männerasyl. Endlich Lösung vom Makel, der etwa noch am Kapitalismus haftete. Und fürs heutige Israel hochbequem, weil Juden als gewaltfreie Erben der Weisheit der Völker. »Schuhplattler zu Donner«. Großartig gespieltes – Studentenkabarett.
Nach der Vorstellung trafen wir uns mit Ernst Schumacher in der Kantine. Er beschwor uns, irgendetwas zu tun für die DDR-Intelligenz, der man jetzt ihre Renten unter die Armutsgrenze drücken will. Sie haben den Kalten Krieg verloren.
*
Zu meiner Verwunderung hat Dieter Claessens mir einen Korb erteilt, als ich ihn um Unterzeichung des Aufrufs für die MEGA anging. Er habe die MEGA nie in die Hand genommen und werde es auch künftig nicht tun. – Merkwürdig private Einstellung zu einem gewaltigen Stück theoretischer Weltliteratur.
14. Mai 1991
Von einer »reaktionären Wende« Gorbatschows spricht der Direktor des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOST), Heinrich Vogel. Das ist die Perspektive jenes fiebernden und widersprüchlichen Gemischs, das sich rechts von sozialistischen Reformperspektiven formiert hat. Hinter der vermeintlichen »Wende« Gorbatschows verbirgt sich dessen Verlust der Balance. Das zentristische Spielen mit und zwischen rivalisierenden Kräften war irgendwann zu Ende. Vogel hält eine Konsolidierung der Umgestaltung für unmöglich.
16. Mai 1991
Leonid Luks, Chef der Osteuroparedaktion der »Deutschen Welle« erklärt in der FAZ (»Droht der Sowjetunion ein Bürgerkrieg?«) Gorbatschows »Inkonsequenz« zum »Geheimnis seines Machterhalts, seiner Verwandlung in einen eigenständigen politischen Faktor, ja in eine Institution«. Dem liege »das labile Gleichgewicht« ganz heterogener Kräfte zugrunde, die nicht mit einander können und deren keine stark genug ist, die andere unterzukriegen: Gorbatschow der »Puffer«. Stärken und Schwächen sind demnach kontrapunktisch verteilt: die KPdSU und ihr Apparat halten effektive Verwaltungsmacht, aber kaum nennenswerte Konsensmacht (nur noch 6 Prozent sollen sie stützen); die »Demokraten« sind insofern Erben der Dissidenten, als sie den Massen misstrauen, eine These, der Jelzins Populismus zu widersprechen scheint. Jede der antagonistischen Formationen hält laut Luks die Perestrojka von ihrem Standpunkt für gescheitert. Die Krise des Landes scheint dem recht zu geben. »Das zerfallende Kommandosystem und die im Entstehen begriffene zivile Gesellschaft funktionieren nach völlig unterschiedlichen Mustern und lähmen sich gegenseitig.« Aber man solle sich vom »immer weiter voranschreitenden Zerfall der wirtschaftlichen und politischen Mechanismen« nicht täuschen lassen: »Dennoch handelt es sich hier wohl um ein schöpferisches Chaos, in dem sich die Verwandlung der sowjetischen Gesellschaft von einem Objekt in ein Subjekt der Geschichte vollzieht.«
Ich stelle mir vor, wie Georg Fülberth höhnen würde, wüsste er, dass ich die Dinge nicht in jeder Hinsicht anders sehe. Aber kann es noch die sowjetische multinationale Gesellschaft sein? Kann es sie überhaupt geben, nachdem sie als solche im befehlsadministrativen System keine Rolle eigenen Rechts spielte?
*
Einen Packen Theaterkritiken zu Zonschitz’ Aufführung der Schatten gelesen. Totschlag mit Worten. Ich wundere mich, dass Otto das überlebt. Roland Wiegenstein vom WDR von allen der Fahrlässigste. Widerwärtig. Insgesamt muss, da wohl keine Verschwörung, ein struktureller Effekt vorliegen, den ich nicht begreife. Es muss etwas mit der Gesamtsituation der Theater in dieser Doppelstadt zu tun haben, wobei sich das Unheil ausgerechnet über der Theatermanufaktur entlädt, die das Pech hat, in dem Haus zu spielen, aus dem die Schaubühne!! hervorgegangen ist.
Detlev Albers äußert sich »entsetzt« über Friggas Beitrag zur Situation der Linken im vereinten Deutschland in der Märznummer von »Z«; er habe daran gemerkt, »in welch verschiedenen Welten wir inzwischen leben«. Ich rätsle, was den Anstoß gegeben haben könnte. Ist es, weil Frigga den СКАЧАТЬ