Название: Jahrhundertwende
Автор: Wolfgang Fritz Haug
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783867548625
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29. Juni 1991
Zwischen Atemlosigkeit und langem Marsch der Philologie bei der Übersetzung von Gramscis Gefängnisheften. So vieles zu besorgen. Vor allem der Aufruf zur Rettung der MEGA hat viel Zeit gekostet.
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Gestern Abend mit Otto Zonschitz in der Voraufführung des Schwejk, eingeladen von Wekwerth, der Regie geführt hat. Das Stück von Brecht, mitsamt zwei eingebauten Passagen aus den Flüchtlingsgesprächen, ist hervorragend. Die Inszenierung lag glücklos darüber. Fand (suchte?) keinen Ansatzpunkt in der Gegenwart. Wekwerth im Verhalten und Reden ungenau, hatte vielleicht getrunken. Das stand im Widerspruch zu seinem »genauen« Aussehen. Äußerte sich zu meinem Entsetzen begeistert über Nicolai Hartmann. Er hat offenbar eine Zeitlang bei Harich studiert.
Traf Lothar Scharsich wieder, der das Bühnenbild gemacht hat: »Zum Kelch« als eine Art Kellerlokal über zwei Stockwerke, Eingang im dritten Stock, die Treppen ein zentraler Handlungsraum, das Ganze nur ein ziemlich schmaler vertikaler Ausschnitt aus der Bühne. In der Kantine lernte ich Scharsichs Frau kennen, die schriftstellerisch arbeitet, und den sechsjährigen Max, einen gelockten Amor.
Aus Japan schreibt Toshiaki Kobayashi, auch dort sei nun »die Autorität des Marxismus zusammengebrochen. Das gilt nicht nur für die alten Linken, sondern für die neuen.« Er schreibt übrigens »Autolität«. Als er mich im März 1990 besuchte, erzählte ich ihm, dass die Koreaner, mit denen ich es in Pyongyang zu tun gehabt hatte, den Namen Luise Rinser als »Ruise Linsel« aussprachen.
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Institutionalisierte Restauration. – Die FAZ definiert die »Treuhand« als »diejenige Einrichtung, die wegen der friedlichen, das heißt, eigentlich ausgebliebenen Revolution in der einstigen DDR den ›amtlichen‹ Versuch macht, einen wesentlichen Teil der von den Kommunisten nach dem Krieg durchgesetzten Ordnung in Ostdeutschland rückgängig zu machen«.
5. Juli 1991
Die deutschen Kapitalexporte sind 1990 im Vergleich zu 1989 um fast die Hälfte gestiegen (40 Prozent Zuwachs) auf knapp 30 Mrd DM. Runde Dreiviertel gingen in die EG: GB 5,5, Benelux 6,6, Irland 3,3, Frankreich 1,86, Spanien 1,58. In die USA gingen 3,6. Es handelt sich darum, Positionen im »Gemeinsamen Markt« zu besetzen. Offenbar sagen sich die Unternehmer, die DDR ist eingesackt, kann also warten. Erstaunlich die Liste der Kapitalimporteure: Schweden 0,953, Japan 0,898, Italien 0,741. Erstaunlich daran, wie wenig und dass Schweden die Liste anführt.
14. Juli 1991
Gestern Abend im Gorki-Theater Steffen Menschings und Hans-Eckardt Wenzels Programm »Die Meisenwürger vom Friedrichshain«, dessen Titelsong im nächsten Argument erscheint. Die Situation einer einstmals oppositionellen DDR-Szene ins Atmosphärische verschoben bearbeitet. Die ästhetisch-traumhafte Verschiebung bringt es mit sich, dass die ›Bearbeitung‹ die Situationsempfindungen in der Schwebe, also auch wiederum unbearbeitet lässt. Sehr eindrückliche kulturelle Spezifik. Das Publikum fast nur aus dem Osten, eine Fan-Gemeinde im Wechsel von Atemlosigkeit und (für uns fast immer überraschendem) Beifall. Ich war hingerissen, gerade auch von diesem Wechselspiel. Eine für uns Westliche schwer durchdringbare eigentümliche Realität, die wir unbedingt respektieren müssen.
15. Juli 1991
Westdeutschland in die »Dominanzfalle« geraten (Karl-Otto Hondrich).
20. Juli 1991
Die unendlichen Mühen der Gramsci-Übersetzung machen mich verstummen.
22. Juli 1991
Gestern Tanja und Michael (»Micha«) Brie zu Besuch. Durch die Blume boten wir Micha die Mitherausgeberschaft des Argument an, und durch die Blume lehnte er ab. Er sprach von Resonanz und gegen Ghetto. In letzterem scheint er uns zu sehen. Durch die Blume sprechend hielten wir schonende Distanz, aber man spürte es körperlich wie einen Krampf. FH wurde gröber, sprach von Überläufern zu Habermas. Micha ergänzte: zu Luhmann.
Vor 14 Tagen wurde er fristlos entlassen wegen seiner Stasi-Mitarbeit, hat aber geklagt.
26. Juli 1991
Jugoslawien. – Eine anscheinend instinktiv befolgte Machtlogik der FAZ-Schreiber: Stärkung der Einheit bei ›uns‹ und den ›uns‹ befreundeten Mächten (der katholischen Kirche, den USA …), Schwächung der anderen, der tatsächlich oder möglicherweise in irgendeiner (oft unklaren) Weise konkurrierenden Mächte. Jugoslawien soll verschwinden, ›wir‹ sind, wie selbstverständlich, im Bunde mit den national ausscherenden Kräften. Die Chaosdrohung des Bürgerkriegs geht – natürlich nur bei ›den Anderen‹ – immer von den größeren Einheiten aus, nie von ihrer Zerlegung. Man muss den untergründigen Filiationen nachgehen, die solche instinktiven Parteinahmen tragen: der große Marktinteressent Bundesrepublik übt – als ein in Wechselwirkung mit anderen seinesgleichen Getrieben-Treibender – eine devastierende Wirkung auf Vergesellschaftungsformen aus, die sich auf niedrigerem Produktivkräfteniveau regulieren; ihre Desintegration setzt dort relative Marktinteressenten heraus, die alsbald das Weite suchen möchten. So zunächst Slowenien, der höchstindustrialisierte und finanziell das ganze Land durchdringende Norden. Auf offenem Markt wird Slowenien es zu nicht viel mehr als zu einem Klientenstatus gegenüber den entwickelten Zentren der EG bringen. Erhofft wird die Ankunft des bis dato jenseitigen Kapitals.
In der SU könnte zuwege gebracht werden, was Jugoslawien versäumt hat: ein zwischen den Mitgliedsrepubliken ausgehandelter neuer Unionsvertrag. Würde die Union zur bloßen Schattenunion, in der alle Macht bei den Republiken läge, könnte das Ganze sich wie das britische Commonwealth in irgendeine lockere Formation mit allen möglichen Übergangsformen zwischen Integration und völliger Auflösung verwandeln. Ob eine solche Struktur der multinationalen Realität der Bevölkerungen Rechnung tragen könnte? Ob sie in der Lage wäre, die nationalistischen Antagonismen notfalls mit Gewalt in rechtsstaatliche Bahnen zu kanalisieren?
Gorbatschow proklamierte vorgestern den Abschied der KPdSU vom Klassenkampf. Nach Stalins »Staat des ganzen Volkes« nun die »Volkspartei«, aber diesmal sozialdemokratischen Typs, in einer Gesellschaft agierend, die weitgehend entstaatlicht ist und sich zunehmend kapitalistisch reguliert. Jedenfalls versucht G, den bisherigen Hauptakteur СКАЧАТЬ