Название: Das Leben ist ein tiefer Fluss
Автор: Rose Zaddach
Издательство: Автор
Жанр: Современная зарубежная литература
isbn: 9783960087519
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Sie habe ihn samt seinen Koffern und der Aktentasche vor die Tür gesetzt, ausgesperrt, ihm bei Nacht und Nebel die Kleidung aus dem Fenster nachgeworfen: Anzüge, Hemden, Schuhe und Socken. Er solle nie mehr das Haus betreten.
Er habe frierend bei sternklarem Himmel vor der Tür gestanden und sie um Einlass gebeten, dann seine restlichen Sachen soweit als möglich in die Koffer verstaut, sei eine knappe Stunde später in ein Taxi gestiegen und nie mehr im Ort gesehen worden. Lebe jetzt wahrscheinlich in der Toskana oder in Sizilien oder auf Gran Canaria, vermutete man. Mit einer Geliebten, einer jungen Studentin von vierundzwanzig Jahren.
Von dem heimlichen Skandal, der erst spät ans Licht getreten war, vor allem, wie er sich zugetragen hatte, erzählte man lange hinter vorgehaltener Hand.
Paula war in dieser Zeit zu sehr beschäftigt gewesen, sodass es dauerte, bis ihr die Geschichte zu Ohren kam.
Ja, ihr Mann beabsichtige mittlerweile, sich wieder neu zu binden, erzählte ein Bekannter im Ort, mit dem er hin und wieder telefonierte, um letzte Formalitäten zu erledigen.
Solche Gespräche gingen um, besonders, weil die Beiden zuvor als leuchtendes Beispiel der Liebe galten. Man bedauerte Charlotte. Man sah, dass sie nicht mehr auf die Beine kam. Immer noch war sie am Boden zerstört.
Sie ließ keine hilfreichen Hände oder tröstenden Worte an sich heran. Sie verwehrte das ihr entgegen gebrachte Mitgefühl. Sie umging jede Konversation. Sie besuchte weder den Kulturkreis im Ort, noch nahm sie an anderen öffentlichen Ereignissen teil. Doch es umgab sie so etwas wie eine Aura ergreifender Größe und Wahrhaftigkeit. Ihr Äußeres offenbarte ihren inneren Zustand. Sie verbarg ihn nicht. Dies blieb über längere Zeit bestehen und veränderte sich nicht – bis zu jenem klassischen Konzert, das unter Organisation und Beteiligung des Kunstforums aufgeführt wurde.
Man hatte den Liederzyklus von Schumann eingeübt, einen bekannten Pianisten und eine junge Sopranistin engagiert sowie eine Auswahl getroffen.
Dazu gehörte unter anderem das Lied „MIGNON“, das Charlotte damals in einen Zustand von Ergriffenheit versetzt hatte und nun Paula mit ihrer schönen Altstimme singen sollte.
Die Musiker, eingeschlossen Paula, gaben bei dem Konzert ihr Bestes und erhielten entsprechend begeistert Beifall, bevor sie sich mit Blumensträußen in die Garderobe zurückzogen. Dort wartete Charlotte. Vor allem wartete sie auf Paula.
Schwerfällig und steif ließ sie sich in dem Sessel nieder, den man ihr anbot. Einen Augenblick saß sie schweigend dort, bis ihr ein leises, gebrochenes Dankeschön über die Lippen kam.
Sie bedankte sich für das wiederentdeckte Glück, das Geschenk des Abends. Das Konzert habe es ihr ermöglicht, wieder in eine schönere Welt zurückzukehren Eine innere Veränderung sei eingetreten. Sie wisse noch nichts Genaues damit anzufangen. Aber vielleicht bewirke der Abend ein Wunder. Vielleicht wolle sie es noch mal mit dem Leben versuchen.
Sie habe heute erst gemerkt, welche Kräfte in ihr schlummerten und dass sie sich von der maßlosen Enttäuschung, die ihr widerfahren sei, jetzt würde verabschieden können. Die Worte kamen noch mühsam über ihre Lippen, ungewohnt.
Paula umarmte sie herzlich und lud sie zu einem Besuch ein. Sie kam wirklich. Von da an erzählte sie. Sie vertraute sich wieder an. Von da an begann auch ihre Freundschaft.
***
Es hatte in ihrer Ehe wohl schleichend begonnen.
Sie spürte es, wie man eine Wetteränderung wahrnimmt: bevor der Föhn einsetzt und die Kopfschmerzen beginnen. Oder wenn ein Orkan sich ankündigt und Gliederreißen auslöst, oder der Herzrhythmus aus dem Takt gerät. Sie spürte eine Veränderung bei sich und ihrem Mann, schon bevor seine Offenbarung ihrer langjährigen und bewährten Beziehung ein Ende setzte. Ein abruptes Ende, kann man wohl sagen.
Das Geständnis fand in einer kalten Winternacht statt, nachdem sie wie üblich gemeinsam ihren Rotwein getrunken hatten. Sie wusste nur, dass sie langsam aufgestanden und bis in die Mitte des Zimmers gegangen war. Dort blieb sie stehen.
Versteinert. Gebannt an diese eine Stelle: diese braune Steinfliese, quadratisch, vierzig mal vierzig Zentimeter groß. Dort muss sie längere Zeit gestanden haben.
Inmitten des großen Raumes, umgeben von kostbaren Teppichen und der noch kostbareren Gemäldesammlung war sie minutenlang zur Salzsäule erstarrt wie Lots Frau im Alten Testament, die verbotenerweise in die Ereignisse des Schreckens zurückblickte.
Zunächst verstand sie nicht.
In ihren Ohren war ein Dröhnen und Rauschen.
Die Erde schwankte, als stürzten jeden Moment die Tempel und Kathedralen sowie die Mauern ihres Hauses ein. Eine Katastrophe war hereingebrochen, so viel hatte sie begriffen.
Sie war am Rande des Untergangs. Es würde ums Überleben gehen. Sie schleppte sich einige Schritte weiter und klammerte sich an die Lehne des dort stehenden schweren Eichenstuhls.
Sie starrte aus der großen Glasfront ihres Hauses.
Gemeinsam gebaut. Keine Bedeutung mehr. Unterhalb die Ortschaft in der Dunkelheit. Kein Stern war zu sehen. Es kam die schwarze Nacht. Sie löste sich mühsam, fast mechanisch. Dann ging sie wie von unsichtbarer Regie geführt blicklos an ihm vorbei. Ihre Schritte klangen laut und hart auf den Stufen nach unten. Er kam hinter ihr her, wollte sie besänftigen.
In dieser Nacht hatte sie ihm Koffer und Aktentasche vor die Tür gestellt. „Reise ab. Sofort. Heute Abend noch“, hatte sie fast tonlos gesagt.
Wie leblos schritt sie ins Haus zurück und schloss mehrfach hinter sich ab, während er nur leicht bekleidet mit ungläubigem Staunen draußen bei den Koffern stand und später in der Dunkelheit mit einem vorfahrenden Taxi verschwand. So muss es jedenfalls abgelaufen sein. Sie sah ihn nicht wieder.
Sie hatte sich in ihr Studio zurückgezogen und darauf, dass die Zeit verging. Doch die Zeit verging nicht. Katastrophen kennen keine Zeit. Sie rechnen anders.
Äußerlich war sie verstummt. Innerlich tobte die Verzweiflung in ihr, die Scham über die Selbsttäuschung, der Schmerz über die Demütigung, die Hoffnungslosigkeit. Es war ihr, als verliere sie ihr Leben und als warte in der Ecke nur der Tod. Es war, als würde ihr Mann, ihr Beschützer, ihr Gefährte, der langjährige Vertraute all ihre Lebendigkeit mit sich nehmen und als könne sie nicht leben ohne ihn und mit ihm auch nicht mehr. „Das ist das Ende“, sprach sie.
Das Haus war leer und still geworden. Wenn sie früher alleine gewesen war, spürte sie die Leere nicht, denn sie war immer innerlich zu zweit. Ihr Mann würde bald kommen, oder am Abend kommen, oder in zwei Tagen, oder in einer Woche.
Das Haus sprach mit ihr, die Bilder sprachen mit ihr. Die Stadt sprach mit ihr und sie mit der Stadt.
Sie war ausgefüllt gewesen.
Die Ergänzungen in einem Eheleben,
die Ansprüche aneinander,
Hoffnungen, Wünsche,
die Selbsttäuschung,
die Bedürftigkeit.
War sie nur ausgefüllt gewesen durch ihn?
Wer war sie?
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