Название: Auge um Auge
Автор: Horst Bosetzky
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955520229
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«Ah ja, danke.»
«Wenn Herr Waschinsky zu Kongressen unterwegs war, hat er mich gelegentlich gebeten, auf seine Wohnung Obacht zu geben. Einmal, als es über ihm einen Wasserschaden gegeben hat, habe ich sie auch betreten. Dabei ist mir etwas Merkwürdiges aufgefallen: In den Bücherregalen habe ich zahlreiche historische Fachzeitschriften gesehen, und gleichzeitig hat er Karl May gelesen, also Trivialliteratur, wie sie eines Akademikers nicht würdig ist. Auf der Anrichte standen Photos seiner Frau und seiner beiden Kinder, alle im Krieg ums Leben gekommen. De profundis clamavi ad te, Domine!»
«Zu welcher Domina hat er gerufen?», fragte Kynast, der sich im Katalog des Versandhauses Beate Uhse bestens auskannte.
Frau Dr. Lauchstädt strafte ihn mit einem strengen Blick. «Ich übersetze, da Sie sicherlich kein Latinum haben: Aus Abgrundtiefen rufe ich zur dir, Herr! Was ich damit meine, liegt doch auf der Hand: Manches Sonderbare an Herrn Waschinsky, wie seine sprachliche Auffälligkeit, erklärt sich wohl aus dem Schicksalsschlag, seine Familie verloren zu haben.»
«Schön und gut», wandte Kappe ein, «aber Herr Waschinsky ist nicht der Täter, sondern das Opfer. Logik, erstes Semester.» Dies hatte er nicht ohne eine gewisse Bosheit hinzugefügt, denn die Selbstherrlichkeit der Oberstudienrätin begann ihn langsam zu ärgern. Kynast schien es ähnlich zu gehen, sonst hätte er nicht nach der Domina gefragt. Dass die Damen und Herren der höheren Schichten ihn und seine Kollegen, die «nur» Beamte des gehobenen und nicht des höheren Dienstes waren, von oben herab behandelten, hatte Kappe in seinem langen Berufsleben oft genug erfahren müssen. Menschen ohne Studienabschluss oder wenigstens Abitur waren eben minderwertig. A priori, wie Frau Dr. Lauchstädt noch hinzugefügt hätte.
Dennoch bedankten sie sich bei ihr wie bei allen anderen Nachbarn. Als sie wieder auf der Straße standen, mussten sie sich aber eingestehen, dass ihnen die Gespräche nicht den geringsten Hinweis auf den oder die Täter gebracht hatten. Keiner wusste von möglichen Feinden Waschinskys, keinem war jemand aufgefallen, der ihn beobachtet oder gar verfolgt hätte.
Kappe überlegte laut: «Und dass Waschinsky ein Zufallsopfer gewesen ist, halte ich für ziemlich ausgeschlossen. Das war mit Sicherheit eine gezielte Attacke.»
Kynast sah die Sache ebenso. «Bleibt uns nichts anderes, als mit Waschinsky zu sprechen und uns weiter in seinem Umfeld umzuhören.»
«Und wenn er inzwischen schon gestorben ist?» Kappe sah auf seine neue Armbanduhr. «Oh! Es ist Mitternacht, Doktor Schweitzer.»
«Wie?» Kynast konnte ihm nicht ganz folgen.
«Der Film, in dem Pierre Fresnay Albert Schweitzer als Missionar in Lambarene spielt», erklärte ihm Kappe.
Kynast lachte. «Aber Waschinsky liegt doch nicht in Lambarene im Krankenhaus, sondern in Halensee.»
«Trotzdem, es ist ein ganz schönes Stück von hier bis ins Salernitana-Krankenhaus.» Kappe schloss die Augen, um den Berliner Stadtplan vor sich zu haben. «Ich schätze mal, an die fünf Kilometer. Zu Fuß sind wir da eine ganze Zeit unterwegs.» Bahnen und Busse der BVG fuhren um diese Zeit nicht mehr, vielleicht noch die S-Bahn, aber das brachte ihnen auch nicht viel.
«Dann gönnen wir uns eben eine Taxe», sagte Kynast.
«Und wenn wir die im Nachhinein nicht bewilligt bekommen?»
«Wir sagen ganz einfach, dass wir mit dem Ableben Waschinskys rechnen mussten und es daher unumgänglich war, ihn zu befragen.»
Kappe leuchtete das ein, und so fuhren sie in einer Taxe nach Halensee. Doch im Krankenhaus konnte man ihnen nichts weiter sagen, als dass Waschinsky noch nicht ansprechbar sei.
«Wird er durchkommen?»
«Wir hoffen es.»
VIER
LICHTERFELDE WEST und Lichterfelde Ost, Gründungen des Unternehmers Johann Anton Wilhelm von Carstenn, waren Ortsteile, die ältere Berliner als «fürnehm» bezeichneten. Der bekannte Architekt Julius Posener hatte die Villenkolonien einmal so beschrieben:
Lichterfelde ist heute noch voll von kauzigen Häusern aller Art: Burgen, Miniatur-Palazzi, Schweizerhäuschen, Backsteinschlössern, in deren hohen, ein wenig düsteren Räumen alte Oberste, Staatssekretäre, Privatgelehrte ihr Wesen trieben, Erinnerung pflegten: Sammlungen, Memoiren. (…) Die Häuser haben sogar einen Geruch, den der Kenner als «lichterfelderisch» erinnert.
In Lichterfelde hatte sich von 1882 bis 1918 die Preußische Hauptkadettenanstalt befunden, und 1881 war hier die erste elektrische Straßenbahn der Welt gefahren. Aber damit nicht genug, von einem Hügel in Lichterfelde Süd war Otto Lilienthal 1894 erstmals mit einem seiner selbstgebauten Gleitflugapparaten geflogen, und in Lichterfelde Ost hatte Manfred von Ardenne die ersten elektronisch aufgenommenen Fernsehbilder präsentiert. Davon, dass sich in Lichterfelde ein Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen befunden hatte, war weniger zu hören und zu lesen.
In der Drakestraße in Lichterfelde nun, ganz in der Nähe des S-Bahnhofs Lichterfelde West, lag die Praxis des 53-jährigen Internisten Dr. med. Erich Mialla. Wer den Film Frauenarzt Dr. Prätorius mit Curt Goetz und Valérie von Martens gesehen hatte, zuckte unwillkürlich zusammen, wenn er Mialla zum ersten Mal erblickte. Nicht nur die äußere Ähnlichkeit der beiden war frappierend, Mialla erfreute sich genauso wie Dr. Prätorius aufgrund seiner Güte und Menschenfreundlichkeit bei seinen Patienten einer überaus großen Beliebtheit. Ein nicht geringer Anteil an dem beachtlichen Zulauf, den seine Praxis hatte, ging aber auch auf das Konto von Schwester Rita. Obwohl Bestellpraxen noch nicht in Mode gekommen waren, schaffte sie es, die Patientenströme so zu verteilen, dass das Wartezimmer niemals überfüllt war. Auch hielt sie Rezepte für chronisch Kranke immer schon vom Doktor unterschrieben bereit, so dass niemand länger als nötig den Tresen blockierte. Und wer wirklich einmal etwas länger zu warten hatten, für den lagen ausreichend Illustrierte des Lesezirkels Daheim bereit.
«Der Nächste bitte!» Dr. Mialla stand in der Tür des Sprechzimmers und winkte Gerda Dobrenz herein, eine mehr als übergewichtige ältere Dame, Frau eines Bäckers und Konditors. Sie wusste noch nicht, dass sie an einem schweren Diabetes mellitus erkrankt war.
«Frau Dobrenz, hat Ihnen Ihr Mann eigentlich schon einmal gesagt, dass Sie zuckersüß sind?»
«Ja, schon öfter.»
«Dann hätte er Arzt werden sollen, er ist mit dem nötigen Instinkt für unseren Beruf gesegnet.»
«Wieso denn das, Herr Doktor?»
«Weil …» Mialla warf ein Blick auf die Tabelle mit den Blutwerten und drückte dann der Patientin die Hand. «Herzlich willkommen im KdB!»
«Im KaDeWe?»
«Nein, im KdB, im Klub deutscher Diabetiker.»
Frau Dobrenz fuhr erschrocken auf. «Ich habe Zucker?»
«Keine Panik! Ja, Sie leiden an Diabetes mellitus, aber wir haben alles im Griff. Es gibt genügend Medikamente, angefangen beim Insulin, die Ihnen helfen werden. Zum Kollegen Augenarzt schicke ich Sie noch, Ihre Füße sehe ich mir gleich selber an. Wenn Sie sich bitte auf die Liege begeben wollen.»
Mialla СКАЧАТЬ