Название: Aviva und die Stimme aus der Wüste
Автор: Vesna Tomas
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783961401642
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Augenblicklich wusste Aviva, was zu tun war. Ohne zu überlegen streckte sie ihre Hand noch weiter dem Tier entgegen und berührte es. Achtsam und voller Liebe legte sie ihre Hand an seinen Hals. Ein Knurren stieg aus seiner Kehle, doch es bewegte sich nicht. Langsam strich Aviva dem Tier über das Fell bis zur linken Schulterhöhe, wo der Pfeil feststeckte. Ich muss ihn rausziehen!
Vorsichtig hob sie ihren linken Arm und umfasste mit beiden Händen den hölzernen Pfeil. „Ich werde ihn jetzt herausziehen. Das wird wehtun. Bitte tu mir nichts.“
Aviva nahm all ihren Mut zusammen, umfasste den Pfeil und zog ihn ruckartig aus dem Fleisch. Im nächsten Augenblick sprang das Tier hoch und riss Aviva mit seinen Vorderpranken zu Boden. Da lag sie nun, im taunassen Laub unter dem Raubtier, und spürte sein Schnauben auf ihrem Gesicht. Ihr Herz pochte wild.
Das Tier öffnete sein Maul. Seine weißen Zähne glänzten im Mondschein und wieder ertönte ein drohendes Knurren und Fauchen aus seinem Rachen. Dabei richteten sich die Augen des Tieres in das Dunkle des Waldes.
Aviva schauderte, denn sie spürte den inneren Kampf dieser Raubkatze, die Verzweiflung in ihr. Seltsamerweise wusste Aviva, dass dieses Knurren gar nicht ihr galt, sondern dem Unbekannten im Wald. Sie konnte nichts tun, außer ruhig zu sein, obwohl sie davon überzeugt war, dass die Raubkatze ihren lauten Herzschlag deutlich hören konnte. Da blickte das schwarze Tier Aviva direkt in die Augen. Es neigte leicht den Kopf und es schien Aviva, als würden seine Augen „Danke“ sagen. Dann sprang es auf einmal über Aviva hinweg und verschwand in der Dunkelheit des Waldes.
Überwältigt blieb Aviva am Boden liegen. Plötzlich hörte sie das wimmernde Blöken des Lammes. Es ist noch da! Als Aviva sich aufrichten wollte, merkte sie, dass sie immer noch den Pfeil in der rechten Hand hielt. Sie betrachtete ihn nun genauer. Er war nicht ganz aus Holz, sondern besaß eine metallene dreigeschliffene Spitze. Aviva erschrak. Nur die Jäger des Stammes Derveta besitzen solche Pfeile, wusste sie. Vorsichtig steckte sie ihn in den Gürtel ihres Hemdes.
Nun ging sie langsam auf das zitternde Lamm zu. Es war verletzt. Vorsichtig hob sie es auf und nahm es zu sich in ihren Umhang. Behutsam presste sie das wimmernde Tier enger an ihren warmen Körper. Plötzlich wurde sie sich der anderen Gefahr bewusst, der sie sich ausgesetzt hatte. Sie hatte gegen die Regeln ihres Stammes verstoßen.
Aviva wusste, dass sie keinem erzählen durfte, was in dieser Nacht passiert war. Die ganze Jägertruppe des Stammes würde das Tier suchen und hetzen. Wieder spürte sie die Verzweiflung und Trauer des Tieres, und gleichzeitig mischten sich diese Gefühle mit ihren eigenen. Ja, auch sie kannte diese tiefe Trauer, seit sie denken konnte; und ab und zu, wenn sie es nicht aushielt, die Schwere der Trauer zu tragen, überkam sie eine ähnliche Verzweiflung. Sie dachte wieder an den Traum, den sie gehabt hatte, bevor sie von den Geräuschen aus dem Wald geweckt worden war.
Energisch schob sie die Gedanken von sich. Sie musste jetzt vor allem wieder unbemerkt zu Großmutters Hütte zurück. Was, wenn der Wächter nicht mehr schläft?, dachte sie angstvoll.
Aviva wusste, dass dann eine verheerende Strafe folgen würde. Trotzig hob sie den Kopf. Ich werde mich wehren, egal, was geschieht! Das eben Erlebte hallte in ihr nach. Sie empfand Stolz, dass sie so mutig gewesen war und sich außerhalb der Abgrenzung nicht schutzlos gefühlt hatte. Es waren viel mehr Mut und Stärke in ihr, als sie sich je hätte vorstellen können. Die Raubkatze hätte sie, genau wie das Lamm, mit Leichtigkeit reißen können, und doch hatte sie auf Avivas Wort innegehalten, ja, sich sogar von ihr berühren lassen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf.
Ein leises Blöken riss Aviva aus ihrer Erinnerung. Sie nahm das Lamm, das in ihrem Umhang zu zappeln begann, heraus. Sein rechtes Vorderbein hing wie leblos herunter und an seiner Seite klaffte eine große Wunde, die es zu verbinden galt. Sie durfte keine Zeit mehr verlieren.
Aviva bettete das Lamm wieder in ihren Umhang und eilte zurück in ihr kleines Dorf, das noch immer verschlafen vor ihr lag. Sie konnte nicht anders, als noch einmal zurückzuschauen, wo soeben noch das wilde Tier gestanden hatte. Werden wir uns wiedersehen?, fragte sie sich.
Mit leisen Schritten schlich sie sich wieder zurück durch das Tor, das noch immer leicht angelehnt war. Von innen schob sie schnell den metallenen Riegel vor, sodass es wieder ganz geschlossen war.
Das Lamm blökte wieder und Aviva fürchtete einen Augenblick, das ganze Dorf würde wach. Sie hielt den Atem an und lauschte. Wenn herauskam, dass sie sich erneut nachts fortgestohlen hatte, ja, dass sie die Gesetze und Ordnungen der Sippe nicht achtete, würde man sie in aller Öffentlichkeit bestrafen.
Auf einmal stand, wie aus dem Boden gewachsen, der Wächter Lendor vor ihr. Er war mit einer Peitsche bewaffnet, deren Griff mit Lederriemen umwickelt war. Er war klein, aber dafür stark gebaut. Fettige schulterlange Haare umrahmten sein Gesicht.
Aviva erschrak. Lendor war ihr nicht wohlgesonnen, er hatte sie bereits einmal erwischt, als sie sich zu nächtlicher Stunde davongestohlen hatte. Ihr blieb nichts als die Flucht nach vorne.
„Oh Lendor!“, rief sie aus. „Sieh mal, ein Lamm hat sich verirrt. Ich konnte es gerade noch rechtzeitig einholen. Schau, es hat sich verletzt!“
Lendor ärgerte sich über sich selbst. Wie ist das junge Ding bloß unbemerkt an mir vorbeigekommen? Hatte er doch wieder zu viel getrunken? Er war schon des Öfteren beim Wachehalten eingeschlafen und wieder war es ausgerechnet Aviva, die ihn in seiner Position schwächte. Rapo würde ihn vor allen Männern demütigen.
„Schon wieder du, Aviva!“ Verärgert packte er sie am Arm und führte sie mit festem Griff zu ihrer Hütte. „Wart’s nur ab, dass du dich nachts heimlich fortschleichst, wird noch ein Nachspiel haben“, schnaufte er. „An mir kommst du nicht mehr vorbei! Morgen werde ich dem Rat alles berichten.“
Das Lamm in Avivas Arm blökte, jetzt schwächer und leiser. Aviva presste es fester an sich. Lendor sah kurz zu dem Lamm, das Aviva offen im Umhang hielt, aber sein Stolz ließ nicht zu, es sich genauer anzuschauen. Besorgt um seine Ehre zischte er in Avivas Ohr: „Diesmal werde ich dafür sorgen, dass du nie wieder nachts rausgehst, das schwöre ich dir!“
Als sie bei Großmutter Kalas Hütte ankamen, drückte er Aviva grob gegen die Tür: „Jetzt ab, rein mit dir!“ Sie huschte ins Innere der Hütte und Lendor stapfte verärgert davon.
Aviva hoffte inständig, dass Kala nicht wach geworden war. Sie hielt den Atem an. Außer einem leisen Schnarchen war jedoch nichts zu hören. Mit leisen Schritten ging sie rasch in das Zimmer nebenan. Sie streifte ihren Umhang ab, legte behutsam das kleine Lamm hinein und machte sich auf die Suche nach einem Stoff, der als Verband dienen könnte. In der Truhe, die an der Wand stand, wurde sie fündig. Als sie die Kleider darin durchwühlte, fand sie ein weiches Stück Leder, das von einem Hasen oder Eichhörnchen stammen musste. Nun fehlte ihr noch ein Stück Holz zum Schienen.
Da kam ihr in den Sinn, wie sie als Kind Steine, Zweige und Blätter gesammelt und sie unter der Truhe versteckt hatte. Sie kniete sich nieder und tastete mit ihrer Hand den Boden unter der Truhe ab, bis sie tatsächlich einen kleinen Stecken fand. Es war sehr verstaubt da unten und ihr fiel ein, dass das ein gutes Versteck für den Pfeil sein könnte, den sie immer noch bei sich trug. Aviva nahm ihn aus ihrem Gürtel und legte ihn unter die Truhe, dicht an die Wand. Dann setzte sie sich so auf den Fußboden, dass etwas Mondlicht durch das Fenster auf sie fiel, nahm das Lamm auf ihren Schoß und СКАЧАТЬ