Название: Endlich ich
Автор: Sebastian Wolfrum
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783532600467
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Jedenfalls: Nach dem Outing als lesbische Frau hat mir keiner aufmunternde Briefe geschrieben. Anders als jetzt. Eine Frau aus der Gemeinde meldet sich bei mir. Sie ist über 90 Jahre alt, wegen diverser körperlicher Gebrechen kommt sie nur noch sehr selten in die Kirche zum Gottesdienst. Jetzt schreibt sie mir einen wunderbaren Brief voller Respekt und voller Wertschätzung. Wünscht Segen.
Da sind auch frühere Weggefährt*innen aus meiner Schulzeit und dem Studium, die mich als radikalen Evangelikalen erlebt haben – und mir nun schreiben: „Das passt alles so gut. Du warst schon immer einer, der auf der Suche war, nie bei sich sein konnte, rumgeirrt ist und deshalb gegen sich selbst aggressiv war.“
Dann steht der erste Sonntagsgottesdienst nach meinem Outing an. Wie wird das sein? Stehe ich alleine in der Kirche? Oder kommen gar Neugierige, die sich den vermeintlich schrillen Vogel mal aus der Nähe anschauen wollen? Stehen TV-Kameras vor der Kirche, Journalisten, demonstrierende Trans-Gegner? Ich bin aufgeregt. Nicht wie am Tag X, aber doch nervös. Und erneut ist meine Aufregung völlig grundlos. Der Gottesdienstbesuch ist normal, keine Journalistenmeute vor der Kirche, keine Gehässigkeiten. Wir feiern Gottesdienst wie immer. Ganz normal. War da was?
In der digitalen Welt bin ich der Held, hier ist mir die Aufmerksamkeit sicher. Für kurze Momente kehrt sich meine Unsicherheit, meine Anspannung, als öffentliche Person, als Pfarrer noch dazu, das Outing bewältigen zu müssen, in Euphorie um. Ich merke, wie ich für viele in der Trans-Gemeinde zum Vorbild werde. Jugendliche, junge Erwachsene und manche sind älter als ich. Sie richten sich an meinem Mut und den vielen positiven Reaktionen auf, da das Outing bei mir augenscheinlich so reibungslos geklappt hat. Weitere Berichte in der Süddeutschen Zeitung und der ZEIT tun ihr übriges. Meine Gefühlslage gegenüber diesem plötzlichen Hype um meine Geschichte ist extrem ambivalent. Es geht nicht um mich als Person, das weiß ich natürlich, sondern um meine Funktion, um das erfolgreiche Coming-Out. Trotzdem fühlt sich die Aufmerksamkeit gut an.
Bis sich meine Vergangenheit wieder wie ein grauer Schleier über alles legt. Die dunkle Seite meiner Geschichte, die kaum jemand kennt und die mich aus meiner Sicht nicht zum Vorbild taugen lässt, drängt sich ins Heute. Jahrelange Depressionen, Selbstmordgedanken und Gewaltphantasien gegen mich selbst – nie könnte ich sagen: Lebt so wie ich, dann wird alles gut!
Das alles wird mir umso bewusster, da ich mein Leben in diesen Tagen und Wochen viele Male rekapitulieren muss. Für die Journalisten, denen ich mein ganzes Leben erzählen soll. Immer abwägen, was erzähle ich, was nicht. Aber nicht nur für die Presse, auch für die vorgeschriebene Psychotherapie, die ich machen muss, um die Hormonersatztherapie genehmigt zu bekommen. Und für alles andere auch. Notwendige Operationen, die Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde.
Andere Transidente, die noch vor ihrem Outing stehen und jetzt meine Hilfe brauchen, fragen mich nach meiner Geschichte, danach, wie ich mir selbst gewiss wurde. Immer wieder höre ich, dass andere mich als Vorbild nehmen; sie erzählen in ihrer Therapie von mir. Manche Ärzt*innen kennen mich schon, bevor ich bei ihnen in der Praxis sitze.
Ich schaue dabei immer wieder den eigenen Abgründen ins Gesicht. Ich sehe auf mein Leben, das so oft an der Kante zum Abgrund verlief. Wie die Gefährten im Herrn der Ringe bin ich durch Moria gewandert. Durch das Outing bleibt kein Stein auf dem anderen. Ich sehe die Bruchsteine, aus dem ich mir meine neue Existenz als Sebastian aufbaue – nicht ohne Stolz, aber eben auch mit Anstrengung und Demut.
Dass meine evangelikale Vergangenheit und mein jahrelanges Wirken in evangelikalen Gruppen kein Thema wird, nicht in der Presse, aber auch nicht online – es verwundert mich. Ich wäre doch eine optimale Zielscheibe! Ein Mensch, der nicht akzeptiert, wie Gott ihn geschaffen hat, und der in seinen vollkommenen Schöpfungsplan eingreift. Das geht nicht. Das ist gegen Gottes Willen. Ich habe mich vom vermeintlich rechten Weg abgewandt, zunächst indem ich mich zu meiner Liebe zu Frauen bekannt habe. Homosexualität wird in diesen Kreisen sehr oft als Sünde angesehen. Von Gott nicht gewollt. Und nun will ich als Transmann leben. Viel mehr Gotteslästerei geht doch nicht. Aber offenbar haben die ehemaligen Mitstreiterinnen vollkommen mit mir abgeschlossen. Oder ist die Luft aus dem Thema völlig raus? Die „Ehe für alle“, die im Sommer 2017 ein großes Thema war, das fix beschlossene Gesetz, die erste transidente Soldatin Anastasia Biefang in der Bundeswehr, all das war kurz vor meinem Outing. Haben sich die Konservativen schon an anderen abgekämpft? Innerlich bin ich trotzdem auf der Hut.
So stark ich in diesen Wochen und Monaten offenbar auf viele Menschen wirke – in mir sieht es zunehmend anders aus. Die Entscheidung, das Outing, alles war richtig. Aber ich bin nicht der strahlende Held, dem die Titelseiten der Zeitungen gehören. Ich bin ein ungeduldiger Mensch, nichts geht mir schnell genug, vor allem nicht, wenn ich weiß, dass etwas richtig ist und ich trotzdem warten muss. Seit September 2017 bin ich in Therapie, weil ich psychiatrische Gutachten für meine Hormontherapie benötige. Transidentität lässt sich auf körperlicher Ebene noch nicht nachweisen, auch wenn die Neuroforschung schon sehr weit ist. Die Hormonumstellung greift massiv in den Körper ein, das ist ja auch so gewollt. Aber die Selbstvergewisserung reicht den Ärzt*innen nicht aus. Also braucht es eine psychiatrische Begutachtung. Und das nicht nur einmal. Nicht nur ich, viele empfinden das Verfahren als unwürdig, verletzend. Doch nach derzeitigem Stand haben wir in Deutschland keine andere Wahl, als uns darauf einzulassen. Meine Therapeutinnen sagen mir: „Wenn wir nicht bei Ihnen sicher sind, bei wem dann?“ Und trotzdem. Ich bin zum Warten verdammt. Regeln, Vorschriften, Empfehlungen der medizinischen Fachwelt. Soweit ich weiß, ist da niemand betroffen. Sie beurteilen von außen, ob wir „richtig“ sind. Wie wir uns zu fühlen und zu verhalten haben und woran wir erkennen, dass wir richtig sind. Sechs Monate. Mindestens. Diese Zeit vergeht quälend langsam. Eigentlich wollte ich ja nicht die Tage rückwärts zählen, bis ich zum ersten Mal Testosteron erhalte. Doch die Ungeduld wird täglich größer, mächtiger. Es ist kurz vor Weihnachten. Mein neues Leben klopft an. Immer lauter.
brüchige Existenz
und?
wenn es dich brechen will
zu Boden beugt
den Willen greift
die Stärke kappt
Halt und Seele prüft
bis ins Mark
bis auf den Seelenfaden
von dir bricht‘s
kannst‘s nicht halten
nicht widerstehen
Splitter krachen springend davon
mürbe gewordene Teile verabschieden sich leise
und?
Geknicktes wird Er nicht brechen
Geschlagenes hebt Er aus dem Staub
Bruchstückbewahrer
03.11.2016
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