Endlich ich. Sebastian Wolfrum
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Название: Endlich ich

Автор: Sebastian Wolfrum

Издательство: Автор

Жанр: Религия: прочее

Серия:

isbn: 9783532600467

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СКАЧАТЬ ist auch dabei. Dann brandet Applaus auf. Ich atme zum ersten Mal an diesem Morgen ganz tief durch. Jetzt ist es raus. Ich bin Sebastian.

      Transident, damit können nur die Wenigsten auf Anhieb etwas anfangen. Im Gehirn denke und fühle ich männlich, mein äußerer Körper entspricht dem einer Frau. Transidente Menschen erleben dieses Auseinanderklaffen von Denken und Körper schon sehr früh in ihrem Leben. Kindern sage ich in den Wochen danach oft: Stell dir vor, du musst dein ganzes Leben in einem Faschingskostüm herum laufen und darfst es nicht ausziehen. Eigentlich bist du jemand anderes, aber kannst es nicht leben. Seit ich über mich nachdenke, fühle ich mich nicht als richtiges Mädchen oder als Frau – was auch immer das sein mag. Ich fühle mich im falschen Körper. Ich trage meine Haare kurz, ich kann Kleider und Röcke nicht leiden, meine Schuhe finde ich am liebsten in der Männerabteilung. Ich rede wie ein Mann, ich benehme mich wie ein Mann, ich denke wie ein Mann, ich trete auf wie ein Mann. Damit bin ich zeitlebens überall angeeckt. Denn nach außen hin war ich eine Frau. Frau Pfarrerin. Irgendwann war ich als homosexuell geoutet. Ja, es stimmt: Ich liebe Frauen. Aber ich bin keine. War ich noch nie. Werde nie eine sein. Und nun will ich endlich als Mann leben. Ein ganzes Leben, 46 Jahre, läuft in Zeitraffer in meinem Kopf ab, als ich inmitten meiner Gemeinde Platz nehme.

      Nachdem der Organist zum zweiten Mal ein Schlussstück gespielt hat, stehe ich auf und gehe an die Tür, um mich von den Menschen der Gottesdienstgemeinde zu verabschieden. Wie jeden Sonntag. Jetzt erst wird mir klar, was für eine ungeheure Menge an Adrenalin in den vergangenen Minuten durch meinen Körper geschossen sein muss. Ich schüttle viele Hände. Wieder fühlt es sich an, als wäre ich in einem Film. Die Menschen sind freundlich, sie sprechen mir Mut zu, danken für die Ehrlichkeit, zollen mir Respekt für den Schritt, umarmen mich, sagen, dass sie zu mir stehen werden als Gemeindepfarrer. Die Konfirmand*innen haben das „Tschüss, Herr Wolfrum!“ offenbar schon ein bisschen geübt. Da steht plötzlich das schmerzverzerrte Gesicht von vorhin vor mir. Der Mann lächelt jetzt. Es tue ihm so leid, sagt er, weil ich so viel Schmerz erleben musste, bis ich endlich zu mir gefunden habe. Da läuft es mir kalt den Rücken runter. Und gleichzeitig fallen tonnenschwere Lasten von meinen Schultern ab. Endlich frei.

      Der restliche Tag ist fast bis auf die Minute genau durchgetaktet. Nach dem Gottesdienst schicke ich eine E-Mail ans Pfarrkapitel. Schon vor dem Gottesdienst haben Bekannte, Freundinnen und ehemalige Kollegen in Oberfranken Post von mir bekommen. Die Nachbarschaft fand einen Brief im Briefkasten. Ein Kaffee, etwas Schokolade, dann steht das Fernsehen vor der Tür. Ein Radioreporter ist auch mit dabei. Schon Tage zuvor hatte ich mich mit einem Journalisten getroffen, der meine Geschichte aufgeschrieben und zeitgleich mit dem Ende des Gottesdienstes auch veröffentlicht hat. In der Folge brummt mein Mobiltelefon den ganzen Tag. Darauf war ich zwar vorbereitet, aber die Wirklichkeit fühlt sich trotzdem ganz anders an. Selbst die große Boulevardzeitung ruft an. Deren Internetredaktion hat schnell einen Text dazu veröffentlicht und seit 13 Uhr 30 gehört mir auch die Headline auf der Internetseite der Lokalzeitung.

      Draußen wird es irgendwann dunkel, der Wind pfeift noch immer ums Haus. Ich bin hungrig, aber zum Kochen fehlt mir die Ruhe. Normalerweise koche ich gerne, aber heute gehe ich in die Pizzeria am Ort. Ich bin auf alles gefasst nach diesem Tag mit dem Outing in der Kirche, den etlichen Anrufen und Reporter-Fragen, den vielen Mails von Kolleginnen und Freunden. Keine Kritik, keine Aggressivität, alle reagieren wohlwollend, einige mit viel Verständnis und Einfühlungsvermögen. Andere auch lapidar – etwa mit: „Ich hab’s schon immer geahnt!“ Im Restaurant bin ich nicht die erwartete grüne Giraffe, keiner schaut mich anders an als sonst. Die meisten haben wohl weder Radio gehört noch im Internet schon mal die Zeitung von morgen gelesen. Ich aber fühle mich heute Abend unendlich frei.

      Immer war ich anders. Die Frau, die zu männlich ist. Die Frau, die Frauen liebt. Seit meinen Kindertagen geht das so. Wegen dieses Andersseins habe ich viel Ablehnung und Unverständnis erlebt. In der Familie, von Gleichaltrigen in der Schule, im Studium, von Kollegen. An diesem 29. Oktober 2017 habe ich dieses Anders sein abgelegt. Ich habe mich aus falschen Hüllen gehäutet, meine Identität als Frau abgelegt. Öffentlich, laut und klar ausgesprochen. Worte sind zu klein, um zu beschreiben, was in mir los ist. Zuhause lese ich noch viele Mails, ich richte ein neues Profil in den sozialen Netzwerken ein. Sebastian, nicht Silke.

      Inzwischen ist es Montag. Irgendwann weit nach Mitternacht wird klar: Mir gehört morgen die Titelseite der Regionalzeitung, vierspaltig. Guten Morgen, Welt, hier ist dein Pfarrer. Mein neues Leben hat gerade begonnen.

      Das Mädchen mit den Bauklötzen

      Silke ist das zweite Kind der Familie, als sie am 3. Oktober 1971 zur Welt kommt. Ihr Bruder ist rund acht Jahre älter. Der Vater stirbt völlig unerwartet etwa ein halbes Jahr, bevor sie in die Grundschule kommt. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Zwei Wochen vor der Bürgermeisterwahl. Seine Plakate tragen nun einen schwarzen Balken. Über Probleme oder Sorgen wird in der Familie nicht gesprochen. Eine richtig intensive Beziehung hat Silke nur zum Vater des toten Vaters. Mit ihrem Opa verbringt sie als kleines Mädchen Stunde um Stunde in der Werkstatt – doch geredet wird auch dort nicht. Die Einsamkeit ist ihr ständiger Begleiter. Sie lernt, sich damit zu arrangieren. Sie lernt das Verdrängen, das Sich-Verstecken, das Außen-vor-Bleiben.

      Einmal dürfen die Mädchen für eine Woche ihre jeweilige Lieblingspuppe mit in den Kindergarten bringen, die Jungs ihre Lieblings-Kuscheltiere. Für Silke ist diese Woche furchtbar. Ihr bester Sandkasten-Freund hat seinen heißgeliebten Plüschhund dabei, Silke gar nichts. Sie besitzt nicht mal eine Puppe. Sie kann damit nichts anfangen, es interessiert sie nicht. Wenn die kleine Silke mal mit in einen Spielzeugladen darf, huscht sie schnell zu den Stofftieren oder den Legosteinen. Doch weil sie nicht die einzige sein will, die keine Puppe mitbringen kann, geht sie mit ihrer Mutter schließlich eine kaufen. Eine Jungen-Puppe, das ist ihr wichtig. Doch sie spielt kaum damit, die Puppe wird zum Alibi, wie später so vieles.

      Silkes Mutter ist es glücklicherweise egal, mit was sie spielen will. Zum einen bedient sie sich im ausgemusterten Fundus des großen Bruders. Zum anderen sind die 1970er-Jahre noch nicht die Zeit des durchgegenderten Spielzeugs. Ihre Eltern – vor allem die Mutter – sind geprägt vom Geist der 68er-Bewegung. In ihrem Elternhaus herrscht eine gewisse Liberalität, vielleicht auch Laissez-faire. Silke kommt das zupass. Auch die Kleidung der Zeit ist nicht mädchenrosa oder bubenblau. Gegen Kleidchen und Röcke wehrt sie sich zumeist standhaft. Nur auf der Hochzeit ihres Lieblingsonkels, der ihr einen großen Stoffhund geschenkt hatte, den Sebastian bis heute hat, muss sie ein Kleid tragen. Und auf der Beerdigung des Vaters. Einer von vielen Gründen, weshalb Silke sich dort vollkommen deplatziert fühlt. Aber mit sechs Jahren macht man in dieser Situation kein Theater.

      Weder ihr noch ihrem Umfeld fällt aber damals etwas auf. Es sind viele Kleinigkeiten, die einen in der Summe vielleicht hätten hellhörig werden lassen können. Oder eben auch nicht. Mädchenkram interessiert Silke damals jedenfalls nicht. Basteln, Puppenspielen, Verkleiden, Frisieren ist ihr einerlei, der von den Jungen getrennte Handarbeitsunterricht eine Qual. Manche ihrer Klassenkameradinnen treffen sich nachmittags, um an ihren Werkstücken weiterzuhäkeln. Sie zieht sich ihre Hose mit den Flicken an den Knien an und fährt mit den Jungs Rad, stromert durch den Wald, spielt Räuber und Gendarm – oder werkelt eben mit dem Opa in der Werkstatt mit Holz, Metall und Elektrozeug. Die Haare gehen höchstens bis zur Schulter und sind Silke selbst dann noch zu lang. Die Mutter schüttelt über so etwas zwar den Kopf, mehr aber auch nicht.

      Ab und zu aber kommt es dann doch zum Krach. „Sei doch nicht immer so jungenhaft“, sagt die Mutter dann – oder: „Musst Du immer wie ein Junge auftreten?“ Irgendwann erzählt ihr die Mutter, dass sie in der Schwangerschaft fest davon ausgegangen sei, einen zweiten Jungen zu bekommen. Den Jungennamen hatten die Eltern zuerst ausgesucht, Axel sollte sie heißen. Silke hatten die Eltern nur für den unwahrscheinlichen Fall der Fälle rausgesucht. Eine quasi unfehlbare Geschlechtsbestimmung per Ultraschall wie heute gab es Anfang der 1970er-Jahre noch nicht. Silke denkt: Schade, dass ich kein Junge geworden СКАЧАТЬ