Endlich ich. Sebastian Wolfrum
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Название: Endlich ich

Автор: Sebastian Wolfrum

Издательство: Автор

Жанр: Религия: прочее

Серия:

isbn: 9783532600467

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СКАЧАТЬ ist es ganz normal, so zu sein, wie sie ist. Aber in vielen Situationen lassen die anderen Kinder sie schon merken, dass sie nicht richtig dazu passt. Sie erfährt auch Ablehnung in der Schule, sie wird auf dem Schulweg von anderen bedrängt, reden kann sie darüber mit niemandem. „Ich habe mich relativ früh damit abgefunden und daran gewöhnt, ein Einzelgänger zu sein“, sagt Sebastian heute. Wenn die halbe Klasse auf einem Kindergeburtstag eingeladen ist, fährt Silke alleine Fahrrad. Als sie zu den Pfadfindern will, wird ihr gesagt, dass nur Jungs mitmachen dürfen. Die Jungs schicken Silke zwar nicht direkt weg, sie ist sogar oft mit dabei – aber nur, wenn sie selbst die Initiative ergreift. Fast keiner holt sie dazu. Nur der Sandkastenfreund hält zu ihr und manchen Nachmittag verbringen sie zusammen im Wald, oder sie entwerfen ganze Legowelten. In der Klasse sitzen alle in einem großen U. Links von ihr sitzen die Mädchen, rechts von ihr sind die Jungs. Silke hat den Platz genau in der Mitte.

      Noch viel schlimmer wird es, als Silke auf das Gymnasium wechselt. Sie und vier andere aus ihrer Klasse dürfen dorthin. Doch ihr Freund aus Sandkastenzeiten sitzt jetzt lieber neben einem Jungen. Die erste Zeit der Pubertät erlebt Silke wie im falschen Film. Mit dem Mädchen-Gekicher kommt sie überhaupt nicht klar, die Jungs aber grenzen sich klar von ihr ab. Doch deren Imponiergehabe imponiert Silke nicht, sie will viel lieber mitmachen. Wenn die Jungs auf dem Gang vor dem Klassenzimmer zum Spaß raufen, will sie mitraufen – und wird weggeschickt. Das ist für sie ein Affront. Silke wird wütend, aggressiv, sucht den Streit mit den Jungs, bis zur gewaltsamen Auseinandersetzung.

      Zu Hause findet Silke auch in dieser Zeit wenig Halt. Die Mutter ist Witwe, die Familie nach dem Tod des Vaters in Sebastians Augen nahezu zerbrochen. Der große Bruder, schon im Studium, macht längst sein Ding. Gespräche über persönliche Dinge gibt es selten, schon gar nicht über Gefühle oder Probleme. Noch vor der Grundschule scheitert der letzte Versuch Silkes, sich ihrer Familie anzuvertrauen: Als Kindergartenkind glaubt sie, dass unter ihrem Bett ein Wolfsrudel wohnt, das sie beschützt. Damit sich die Wölfe nicht bedroht fühlen, darf sie aber nicht bis zur Kante des Bettes laufen, sondern muss einen Meter davor abspringen. Als sie das ihrer Oma, der Mutter ihrer Mutter, erzählt, kniet sich diese mit ihr vor das Bett, um ihr zu erklären, dass da gar keine Wölfe sind. Ab diesem Zeitpunkt beschließt Silke, nichts mehr über sich zu erzählen. „Ich werde bis heute wütend, wenn man mich nicht ernst nimmt.“

      Silke zieht sich in ihre Fantasiewelt zurück. Sie liest viel, Karl May, Bücher über Dinosaurier, Wölfe und Hunde, die Jungen-Reihe Burg Schreckenstein. Hanni und Nanni hingegen findet sie doof. Sie taucht ein in die Welt des Jungeninternats, sie will mittendrin sein und ist zu dieser Zeit doch so weit weg davon. Sie macht mehr Sport – Leichtathletik, die Kraftdisziplinen Werfen, Kugelstoßen, Speerwurf. Später spielt sie auch Handball. Und erfährt wieder, dass sie nicht so ganz dazu passt. Auf dem Spielfeld ist alles bestens, aber außerhalb des Trainings und der Spiele ist sie nie Teil der Mannschaft. Es gab einfach keine Gemeinsamkeiten mit den Mädchen in ihrem Alter. Und auch mit den Jungs wird es immer schwieriger. Während sich alle in ihrem Alter zunehmend von den Erwachsenen abgrenzen, sucht Silke deren Nähe – zu ihren Lehrern, Trainern, Betreuern.

      Es häuft sich die Erfahrung: Verdammt, ich passe nicht dazu. Auf den ersten längeren Ausflügen in der Unterstufe des Gymnasiums wird ihr das erneut schmerzlich bewusst – immer dann, wenn sie als Mädchen von älteren Damen aus den öffentlichen Frauen-Toiletten geworfen wird. Der Ausspruch „Die Jungs sind gegenüber“ begleitet sie fortan, manchmal geht sie nur noch in Begleitung von Klassenkameradinnen aufs Klo, manchmal macht sie sich mit anderen einen Spaß daraus, die älteren Damen zu veräppeln. Doch tief in ihr drin verletzt sie das alles sehr. Sie trägt Hose, Pulli, T-Shirt und passt damit einfach nicht in das Geschlechter-Stereotyp der damaligen Zeit. Die Bezeichnung „androgyn“ gibt es damals nicht, und sie träfe es auch nur unzureichend. Sie ist kein androgynes Mädchen, sie ist gar kein Mädchen. Aber auch dafür gibt es damals keine Wörter.

      Je weiter die Pubertät, die sexuelle Entwicklung ihren Lauf nimmt, desto seltsamer wird alles. Ihr Aussehen und ihr Auftreten passen einfach so gar nicht zu ihrem Geschlecht, findet ihre Umwelt. Sie ist kein süßes, kleines Mädchen. Aber als Junge konnte sie sich damals nicht wahrnehmen. Dafür reichte selbst die eigene Phantasie nicht aus.

      Die ersten Wochen danach

      Ich packe meine Sachen und bin raus. Die zwei Tage nach meinem Outing waren stressig, an Schlaf kaum zu denken. Der Körper voll mit Adrenalin. Viele Interviewanfragen, Mails und Facebook-Nachrichten. Doch jetzt zählt erst mal etwas anderes. Ich steige ins Flugzeug nach Spanien, um mit meinem Bruder zu reden. Seit ein paar Jahren haben wir wieder mehr Kontakt; auch, um über unsere Familie, unsere gemeinsame Geschichte zu sprechen. Dieser Kurztrip wird hochintensiv, das weiß ich schon vorher. Ich will ihm von Angesicht zu Angesicht erzählen und erklären, wie es mir geht. Er wusste natürlich schon, was an diesem 29. Oktober passieren wird – aber groß darüber reden wollte ich am Telefon nicht. Wir hatten die Wochen vorher viel hin und her geschrieben. Seine allererste Reaktion war positiv. Er sagte mir seine Unterstützung zu. Nun aber will ich meinen Bruder sehen. Der Flieger hebt ab, Ziel: Santiago de Compostela. Ich bin dann mal weg.

      In Spanien bin ich mit meinem Bruder viel unterwegs. Er berät Bodegas, und in diesen Tagen ist die Weinlese vorbei, erste Proben stehen in den Kellern an, Gespräche mit Gastronomen und anderen. Seinen Geschäftspartnern stellt er mich sehr selbstverständlich als seinen Bruder vor. Niemand fragt nach. Alle reden mich mit Finn an. Ich bin „hermanos“, der „Bruder“.

      Auf den Fahrten und in den Nächten reden wir viel miteinander. Wie es ist, in der Öffentlichkeit zu stehen, dem Pressehype ausgesetzt und dem, was noch kommen mag. Als ehemaliger Assistent eines Nobelpreisträgers weiß er, was das bedeutet. Wir sprechen auch viel über die Familie, die Vergangenheit. So nah wie in diesen Tagen waren mein Bruder und ich uns schon lange nicht mehr.

      Schon im Flugzeug, auf dem Rückweg nach Deutschland schlägt das Herz wieder schneller. Wie wird das jetzt sein, das neue Leben, der neue Alltag? Auf dem Smartphone habe ich gesehen, wie viele Nachrichten schon wieder darauf warten, gelesen und beantwortet zu werden. Alle sind wohlwollend und aufbauend, ja bestärkend. Keine Vorwürfe oder Anfeindungen. Es sind auch viele Anfragen von anderen Transidenten dabei, die Rat und Hilfe suchen. Vielen ergeht es offenbar ganz ähnlich, wie es mir ergangen ist. Schon in den ersten Tagen nach meinem Outing werde ich zum Vorbild. Einer, der sich traut. Viele andere richten sich dran auf. Finden durch mich den Mut, zu sich zu stehen. Vor allem viele religiöse Menschen, die sich fragen, wie ihr Transident-Sein mit ihrem Glauben zusammengeht. Vertraute Fragen. Auch ich habe viel Zeit im Gebet und mit meiner Seelsorgerin verbracht, bis ich sagen konnte: Sehr gut geht das. Gott liebt mich so, wie ich bin. „Ich kannte dich, bevor ich dich im Mutterleib gemacht habe.“ Mich, Sebastian. So einfach ist das.

      Jetzt also: Neustart ins Leben. Vorsichtig taste ich mich von Tag zu Tag, viele erste Male stehen mir bevor. Angespannt trete ich vor meine Klassen an der Fach- und Berufsoberschule in Würzburg. Meine ersten Worte klingen fast auswendig gelernt. „Ich gehe davon aus, dass Sie in den letzten Tagen irgendwann einmal von mir gehört oder gelesen haben“, sage ich. Die Schüler und Schülerinnen, alle mindestens 17 Jahre alt, nicken und manche grinsen wohlwollend – aber niemand sagt etwas. „Ich bin jetzt Herr Wolfrum. Bitte redet mich in Zukunft so an.“ Wieder Nicken, wieder Stille. Ich halte kurz inne, schaue in die Runde. Dann mache ich einfach weiter mit dem Unterricht. Die Schülerinnen und Schüler wechseln die Anrede, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.

      Am Mittag des selben Tages dann das Gleiche im Kollegium, begleitet von aufmunterndem Schulterklopfen, und ein paar Tage später wieder bei einer Bürgerversammlung in der Gemeinde. Überall kommt mir Wohlwollen entgegen, oft auch Respekt für diesen Schritt. Ein älterer Mann schlägt mir auf die Brust. „Klasse! Ich finde das gut, was Sie machen.“ Männer unter sich, mit ihren Gesten, ihren Symbolen. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, wie unfallfrei das Outing abläuft. Damals, als ich СКАЧАТЬ