Название: Briefgeschichte(n) Band 2
Автор: Gottfried Senf
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783961450459
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Lieber Gottfried, liebe Karin, heute kam der große Umschlag (mit Brief, Zeitungsausschnitten, Prora-Broschüre etc.), der also genau 3 Monate unterwegs war, am 1.11.98 geschrieben, am 2.11. abgestempelt. Eine beachtliche Leistung der modernen Post. Der Umschlag hat natürlich irgendwo herumgelegen. In 10 Jahren gibt es diese Art der Postbeförderung möglicherweise gar nicht mehr. Man merkt schon jetzt, dass die Post an diesen Sendungen wenig interessiert ist. Trotzdem herzlichsten Dank. Wir freuen uns sehr, besonders über den langen Brief.
Du schreibst “dass die Zeit für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte erst noch kommen wird“. So war das auch nach 1945 in West-Deutschland. Mit den Alten konnte man über die Nazizeit nicht reden, sie wollten diese Jahre vergessen, weil sie selbst mitgespielt hatten oder ihnen in dieser Zeit übel mitgespielt wurde. Das ist auch durchaus menschlich. Die, die bei den Nazis oder den Kommunisten (in der DDR) in diesen Weltanschauungen ein Ideal gefunden hatten, standen nun vor den Trümmern ihres Lebens. Die Enttäuschung machte sie stumm oder bockbeinig. Und die, die ahnten, wohin diese Ideologien führen würden (in das Verbrechen und die Zerstörung der Gesellschaft), und deshalb von Anfang an abseits standen und nicht mitmachten, die waren im Grunde zu vornehm, um nun, da alles so gekommen war, wie sie es vorausgesagt hatten, es ständig den „Ideologen“ vorzuwerfen und sie anzuklagen. Eigentlich fing es mit dem „Aufarbeiten der Nazizeit“ erst in den 1960er Jahren an, und die, die „aufarbeiteten“, waren Leute, die nach 1935 zur Welt kamen und die Hitlerzeit hauptsächlich aus Dokumenten kannten. Selbst für meine Generation ist die Nazizeit ein heißes Eisen. Wir haben deutsche Freunde hier, in meinem Alter, wenn wir die treffen und die Sprache kommt auf die Nazizeit, dann dauert es nicht lange bis jemand ins „Fettnäpfchen“ tritt, also etwas sagt, was beweist, dass er noch immer dieser längst vergangenen Zeit verhaftet ist. Wie das so schön witzig Maxim Biller in beigelegter Kolumne beschreibt. Und vielleicht bin ja auch ich von dieser Zeit geprägt und nicht so frei, wie ich mir das einbilde. Es hilft natürlich, dass ich seit über 40 Jahren in Kanada gelebt habe. Da habe ich mir angewöhnt, nicht so schnell zu urteilen und zu verurteilen. Deshalb bin ich so gegen die Veröffentlichung der Stasiakten. Nur wirkliche Verbrechen hätte man mit Hilfe dieser Akten bearbeiten sollen. Aber all diese Treuebrüche und Spitzeleien, dieser unsagbare Klatsch, der Neid, das Kämpfen um kleine Vorteile, all das hätte man vergraben sollen. Nun vergiftet es das Leben von Menschen, die unter den Dienern Moskaus nun wirklich kein Zuckerbrot zu essen hatten.
Zu unserer „Verbannung“ auf die Insel Rügen. Ja, Prora stand im Herbst 1945 im Rohbau fertig da. Es war schon toll, allein die Ausdehnung der Anlage. Vier Kilometer entlang der Biegung des Strandes. Dazu musst Du Dir Herbstwetter vorstellen. Der Wind wehte und die Wellen der Ostsee machten einen Heidenlärm. Schon war Sand in die Gebäude geweht worden. Die Berge von Badewannen und Klobecken warteten darauf, installiert zu werden. In meiner Erinnerung wurde diese Riesenruine zum Zeichen des Größenwahns der Hitlerzeit, dieser unsäglich brutalen Angeberei. (s. Bild 12) Werde ich noch einmal nach Rügen kommen? Es ist sicherlich besser, nicht an diesen Ort zurückzukehren. Auch vor Dresden scheue ich zurück. Es war eine so völlig einmalige Stadt vor der Zerstörung. Soll man sich diese Erinnerungen durch das neue Dresden verderben?
Zum Regierungsumzug von Bonn nach Berlin: Ich glaube schon, dass Bonn die sogenannte Demokratie in Deutschland heimisch gemacht hat. Bonn hatte etwas angenehm Bescheidenes, das hoffentlich den Umzug nach Berlin überlebt. Aber nun ist ja Deutschland in die europäische Gemeinschaft eingebettet, und wenn erst einmal Ost-Europa auch noch eingegliedert worden ist, dann kommt hoffentlich Europa zur Ruhe.
Dass sich bei Euch viele nach „der guten alten Zeit“ sehnen, ist verständlich. Im Augenblick kann einem der fast unkontrollierte Kapitalismus schon Angst machen. Die Reichen, und damit Mächtigen, müssen lernen, dass die Welt nicht nur für sie da ist, sondern für uns alle. Ein System, dass nur auf Ausbeutung beruht, kann nicht von Dauer sein und trägt den Keim der Zerstörung mit sich herum.
„Die Zeit“: Es gibt leider seit einem Jahr keine nordamerikanische Ausgabe mehr und die deutsche Ausgabe kostet jetzt statt $ 80 schon fast $ 400 im Jahr! Das wollte ich natürlich nicht ausgeben. Doch schenkte mir ein lieber Freund „Die Zeit“ für ein Jahr. Seit Weihnachten erscheint sie hier im Haus jede Woche. Nun bin ich also wieder so einigermaßen über Deutschland informiert. Nach wie vor ist „Die Zeit“ Spitze. Wie da nach allen Seiten debattiert wird! Weniger schön finde ich, dass man Honecker zu Reklamezwecken in der Beilage „Zeit Magazin“ benutzt. Doch ist dieses Photo des ehemaligen DDR–Chefs interessant. Diese zweifelnden Augen. Zweifelt er an seiner Macht? War er sich seiner totalen Abhängigkeit von Russland bewusst? Eigentlich wirkt er sympathisch, wie ein Oberlehrer oder Bankdirektor in einer mittelgroßen Stadt. Von Brutalität keine Spur. Wie intelligent war er? Warum stellte er sich nicht, spätestens in den achtziger Jahren, an die Spitze einer reformierten DDR, die sich der Welt öffnete? Warum glitt ihm das Heft aus der Hand? Möglicherweise misstraute er dem Volk, das er anführte. Warum sonst diese tolle Bespitzelung praktisch aller durch die STASI? Ein Rätsel! Man würde sich gern einmal mit ihm unterhalten und ihm diese Fragen stellen. Leider ist es dazu zu spät. Der Mann ist nicht mehr am Leben. Diese Erinnerungen wären interessant gewesen.
Wie schön, dass Ihr nun bald im Ruhestand seid. Dann müsst Ihr noch einmal nach Nordamerika kommen. Ende April werden wir für drei Wochen nach England reisen. Wir hoffen, auch Virginia wieder zu sehen. Für den Rest des Jahres bleiben wir zu Hause. Wir bedanken uns sehr und wünschen Euch alles Gute und Schöne. Schreibt bald einmal wieder. Alles Neue aus Geithain und Sachsen interessiert mich.
Herzlichst John und Gisela
Geithain, 07.03.99
Liebe Gisela, lieber John, nun muss es aber nach langer Zeit wieder einmal einen Brief aus Geithain geben. Inzwischen sind schon einige Briefe von Dir hier eingetroffen. Ich werde diesen Brief per Luftpost senden, damit er nicht wieder so lange wie mein letzter unterwegs ist. Ab nächster Woche habe ich meinen neuen Computer und könnte auch eine E-Mail senden. Bisher nutzte ich immer die Möglichkeit in der Schule, um mit meinen Radfreunden von den Irland-Touren in Kontakt zu treten. Es ist schon faszinierend, wenn man so in einer Freistunde schnell ein paar Zeilen auf dem Computer schreibt, dann kurz auf "Senden" klickt und ab geht es nach Los Angeles oder wohin auch in der Welt. Wenn der Adressat in seiner mailbox rechtzeitig nachschaut, kann man in einer Stunde schon wieder Antwort erhalten. Das alles kostet ein paar Pfennige! Voriges Jahr waren in der Irland-Truppe vorwiegend Radfans aus den USA und alle gaben mir ihre E-Mail- Adresse.
Nun aber erst einmal vielen Dank für Deine Briefe bzw. Päckchen mit den Briefen. Einen Teil der Briefe Deines Bruders hatte ich ja schon damals bei Euch, so vor dem Schlafen, gelesen. Nun noch einmal, und die Wirkung ist die gleiche wie damals. Welche Gefühls- und Gedankenwelt offenbart sich! Wenn immer wieder gefragt wird, wie konnten die Deutschen der Naziideologie nur so lange und so gläubig folgen, dann helfen persönliche Briefe aus der damaligen Zeit mitunter mehr als hochwissenschaftliche historische Darstellungen, um Antworten zu finden. Die Briefe Deines Bruders und meines Schwiegervaters (gefallen 1941 vor Moskau) ähneln sich sehr. Meine Schwiegermutter gab mir alle Briefe kurz vor ihrem Tod. Der Schwiegervater war im Gegensatz zu Deinem Bruder (20 Jahre) ein gestandener Familienvater mit Frau und zwei kleinen Kindern, aber immer noch diese "Lust am Dienen", diese Freude "am straffen Dienst", diese Siegeszuversicht, die Selbstverständlichkeit und absolute Zweifelsfreiheit an allem, was geschah. Es ist kein Wunder, dass sich ganz normale Deutsche im Laufe der nächsten Kriegsjahre an heute unvorstellbaren Verbrechen beteiligt haben. Solche Briefe (ohne Namensnennung) in geeigneter Weise publik zu machen, wäre meiner Ansicht nach schon wichtig. Aber dann taucht stets die Frage auf, lesen es die, die es wirklich lesen sollten? Manche wollen nicht aus der Vergangenheit lernen und fühlen sich mit ihren Scheuklappen und dem Brett vor dem Kopf ganz wohl.
Gegenwärtig gibt es bei mir überhaupt keine Möglichkeit für geruhsames Lesen und Aufschreiben СКАЧАТЬ