Название: Attentat Unter den Linden
Автор: Uwe Schimunek
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955520328
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»Ich sehe schon, du musst mir die Zusammenhänge noch einmal ausführlich erläutern.« Kußmaul erhob sich. »Leider warten meine Abendpatienten auf mich.« Er drückte Gontard die Hand und überließ ihm großzügig die Rechnung. »Du hörst von mir, sobald wir ein Ergebnis haben«, sagte er im Abgehen.
Gontard war ihm nicht böse. Dank der umsichtigen Verwaltung seines zwar ungeliebten, doch tüchtigen Schwagers erbrachte sein Gut in der Prignitz so viel Gewinn, dass er hier in der Residenz kein Leben in Armut führen brauchte. Dennoch wurde es allerhöchste Zeit, in Wutike wieder einmal nach dem Rechten zu schauen, seine Henriette in die Arme zu schließen, und sei es nur für zwei kurze Nächte, und den Kindern einige Stunden zu widmen. Sein erklärter Liebling, die kleine Luise, wurde acht und begann sich unter Henriettes Einfluss zu einer eigenwilligen jungen Dame zu entwickeln. Ferdinand hingegen, inzwischen zehn Jahre alt, schien eher dem ruhigen und besonnenen Naturell des Vaters zu entsprechen, dessen Zweifel sich mehrten, ob dem Jungen wirklich die stillschweigend vorgegebene Kadetten- und Offizierslaufbahn zuzumuten war. Es schien immerhin, dass auch in Ferdinand die väterliche Begabung für die Naturwissenschaften und die technischen Neuerungen schlummerte. Vielleicht würde er auf diesem Gebiet einmal die bescheidenen Leistungen des Vaters übertreffen. Eine militärische Karriere jedenfalls erschien Gontard unter den gegenwärtig trüben Verhältnissen in Preußen wenig erstrebenswert für den einzigen Sohn.
Gontards Entschluss stand demzufolge fest. Sosehr von Schnödens Aufforderung und das unerwartete Ableben von Streyths seinem Interesse an jeglichen rätselhaften Vorgängen entgegenkamen, er hatte nicht vor, diesem Ereignis das geplante Wochenende in Wutike zu opfern. Deshalb dachte er auch nicht lange darüber nach, ob von Schnöden bei der Erteilung seines Auftrags, der gemäß der Rangordnung ja eigentlich einen Befehl darstellte, den bereits bewilligten freien Sonnabend einfach vergessen hatte.
Adalbert Kirchner packte seine Unterlagen für den nächsten Tag in die Kartentasche. Er konnte die Augen kaum noch offen halten, so müde und zerschlagen fühlte er sich. Dennoch, die Tasche wurde am Abend gepackt, sonst würde er in der Nacht unruhig schlafen.
Beim Verstauen der Papiere kam Kirchner sich immer vor wie ein Primaner - und das, obwohl er auf die dreißig zuging. Dieses Gefühl verspürte er nur am Abend, wenn er den nächsten Tag an der Artillerie- und Ingenieurschule vorbereitete. Ansonsten unterschied sich das Studium in Berlin erheblich vom Schulbesuch in der schlesischen Provinz. Natürlich, das preußische Militär führte ein hartes Regime, die Schulleitung nahm es mit der Ordnung, der Pünktlichkeit und der Pflichterfüllung bei den Studenten sehr genau. Damit kam Kirchner, seit frühester Kindheit an eine strenge Erziehung gewöhnt, gut zurecht. Das übliche Studentenleben erschien ihm ohnehin kaum erstrebenswert, lieber lernte er und widmete sich in Ruhe seinen naturwissenschaftlichen Studien. Allein die Labore, die neuesten Instrumente und Geräte in Räumen, die so hell getüncht waren wie frisch gestärkte Hemden und so groß wie ein herrschaftlicher Salon! Kein Vergleich mit der Kammer, in der sein Vater die Medikamente seiner Apotheke mischte. Ganz sicher konnte Kirchner bei der Garnison in Breslau nicht so forschen wie hier. Im täglichen Dienst bei den Pionieren würde er kaum Zeit für seine Passion haben: die Optik.
Kirchner steckte eine letzte Papierrolle in die Tasche und stellte diese auf den Stuhl neben seinem Bett. Er schaute zu Bernward von Pragenaus Bett. Der Stubenkamerad schaffte es nur leidlich, seine Decke nach Vorschrift zusammenzulegen. Jeden Morgen beobachtete Kirchner die Hast, mit der Pragenau das Zeug zusammenraffte.
Die Tür wurde aufgerissen, und Bernward von Pragenau torkelte in die Stube. Die Bierfahne erreichte Kirchner, noch bevor Pragenau den Mund öffnete.
»Das ist gut …« Pragenaus Worte klangen so wacklig, wie sein Gang zwischen den Betten ausfiel. »Ich hatte Sorgen, du schläfst schon …«
Kirchner ärgerte sich, dass er nicht ein paar Minuten früher in sein Bett gekrochen war. Auch wenn er Pragenau gut leiden konnte - ein Feingeist war der nicht gerade.
»O Mann, ich sage dir … ich hatte heute ein Erlebnis! Das glaubt mir kein Mensch!« Pragenau lallte herum, schien aber entschlossen, ein Gespräch anzufangen. Das konnte ja heiter werden!
Der Stubenkamerad ließ seinen plumpen Körper auf den Stuhl fallen. Das Holz ächzte, hielt aber stand. Wenn er saß, sah Bernward von Pragenau wie eine zu groß geratene Maus aus - mit seiner spitzen Nase und dem Kopf, der übergangslos in den Bauch überzugehen schien. Im Schein der Ölfunzel, die kaum das durchs Fenster fallende Mondlicht verstärkte, wirkte seine Gesichtsfarbe ungesund und grau.
»Hörst du mir zu?«, lallte Pragenau.
»Erzähl mir lieber morgen von deinem Erlebnis! Ich hatte auch eines, ein ziemlich schreckliches sogar …«
Pragenau, der sein einziger wirklicher Kamerad hier an der Schule war, schien Kirchners Bemerkung aber eher lustig zu finden. »Ssiemlich schrecklich …«, artikulierte er mühsam. »Du meinst die Schule, stimmt’s?
»Es war im Stall. Aber wir müssen jetzt nicht darüber reden.«
»Im Stall!« Pragenau wieherte wie ein Pferd. »Aber ich sage dir, hinter dem Marstall …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, ich sage gar nichts …« Mit weit aufgerissenen Augen glotzte er Kirchner an. »Was war denn los im Stall?«
Ja, was? Wo sollte Kirchner anfangen? »Nun ja … Grani geht es gut.«
Pragenau guckte so verständnislos, als hielte Kirchner einen Vortrag über theoretische Physik. »Grani?«, fragte er gedehnt.
»Na, deinem Pferd.«
»Ich weiß, wie mein Pferd heißt …«
Es war hoffnungslos. Der Einstieg in ein vernünftiges Gespräch war wohl vorerst gescheitert.
Pragenau stützte seinen Kopf in die Hand und nuschelte: »Was ist denn Schreckliches in der Stadt passiert?«
Widerstrebend gab Kirchner Auskunft. »Es fiel plötzlich ein Schuss. Ein Pferd ging durch, und jemand schrie. Und als ich endlich hinzukam, war der Mann tot …«
Zugegeben, das war eine extrem verkürzte Darstellung der Geschehnisse und dennoch die Wahrheit.
»Ein Schuss?«, lallte Pragenau. Anscheinend wurde er immer blasser - oder ging das Öl in der Lampe aus?
»Ja, der Knall war nicht zu überhören. Ich bin sofort losgerannt, und dann fand ich den Oberst-Lieutenant in seinem Blut liegend … und neben ihm die Pistole.«
Pragenau stierte ihn an. Sein Mund stand offen.
»Mit dieser Waffe in der Hand hat mich dann der Rittmeister neben der Leiche von Streyths angetroffen«, ergänzte Kirchner.
»Von Streyth?« Für einen Augenblick schien Pragenau hellwach. »Du meinst, von Streyth ist erschossen worden?«
Kirchner zögerte. Darüber hatte er lange nachgedacht. Konnte er das bestätigen? War die Waffe noch warm gewesen? Er hatte sie am Griff aufgehoben und nicht auf die Temperatur geachtet. Der Criminal-Commissarius hatte behauptet, die Pistole sei kurz vorher abgefeuert worden, und zwar von ihm, Kirchner. Tatsächlich hatte es ja im Stall nach Pulver gerochen. Aber konnte das nicht auch von einer anderen Waffe herrühren? Hatte der Schuss überhaupt von Streyth getroffen? Kirchner schüttelte den Kopf und sagte: »Ich СКАЧАТЬ