Das Tal der Untoten. Matthias Albrecht
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Название: Das Tal der Untoten

Автор: Matthias Albrecht

Издательство: Автор

Жанр: Зарубежная классика

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isbn: 9783961455720

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       I

      Ich hatte Zeit. Verdammt viel Zeit. Konnte, wenn mir der Sinn danach stand, stundenlang aus dem Fenster schauen und die Autos zählen, die in die Einfahrt zum Parkplatz der Justizvollzugsanstalt bogen. Und die Menschen, die ihnen entstiegen: Beamte, Besucher, Anwälte, Vernehmer, Postboten …

      Es war mir zwar nicht möglich, den gesamten Platz zu überblicken, aber einen Großteil schon; immerhin „wohnte“ ich im obersten Stockwerk des Hafthauses.

      Ich konnte mir auch vorstellen, einen Garten in der angrenzenden Anlage zu besitzen, Gäste eingeladen und gerade den Grill angefeuert zu haben. Bald bedeckte weiße Asche die Glut der Holzkohlebriketts und ich legte die ersten Fleischstücke auf. Saft und Fett tropften vom Rost – der Duft, den mir der Westwind herüber wehte, gab meiner Tagträumerei einen realistischen Kick. Ich schloss die Augen und schmeckte das frisch gebrutzelte Steak, das kühle Bier, den scharfen Senf – und schluckte schlussendlich die Traumwelt mitsamt dem sich in meinem Mund unwillkürlich gebildeten Speichel wie eine bittere Pille, während ich mich vom Gitter löste und in die Realität meiner „Bude“ zurückkehrte.

      Seit knapp fünf Monaten war ich jetzt Gefangener. Ich teilte mein Los mit rund vierhundertachtzig weiteren Insassen. Nicht dass ich mich mit ihnen identifizierte. Wobei es natürlich welche gab, die – wie ich – glaubten, unschuldig eingesperrt worden zu sein. Das waren die wenigsten, wenn sie es zumeist auch nicht laut äußerten. Der Großteil fand sich in sein Schicksal und hielt die Füße still. Einige allerdings probten den Aufstand. Sie provozierten und beleidigten die Beamten oder griffen sie und ihre Mitgefangenen tätlich an, verstießen permanent gegen die Hausordnung, zerschlugen ihr Mobiliar, ritzten sich Wunden ins Fleisch, legten Feuer … Es handelte sich oftmals um Ausländer aus dem arabischen Raum, welche „auf Droge waren“ oder Inhaftierte anderer Nationalitäten, vor allem Osteuropäer, die sich nicht mit der deutschen Mentalität und den hier herrschenden Umständen anzufreunden vermochten. Doch auch Deutsche befanden sich darunter. Das muss ich der Fairness und Vollständigkeit halber einräumen.

      Für solche Eventualitäten gab es seitens des Vollzugs spezielle Maßnahmen. In akuten Fällen der Selbstverletzungsgefahr oder gar Suizidandrohung reagierte man prompt mit der Verlegung des betreffenden Gefangenen in den sogenannten „Suizidpräventionsraum“. Einer Zelle, welche mit einer bruchsicheren Scheibe ausgestattet war, durch welche ein Beamter im Nachbarzimmer sämtliche Aktivitäten des zu Beobachtenden verfolgen konnte. Und die über eine reißfeste Matratze, widerstandsfähige Fensterscheibe, ein unzerstörbares Edelstahl-WC und ähnlich robustes Mobiliar verfügte. In extremeren Fällen griff man auch schon mal zum „Besonders gesicherten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände“, kurz „BGH“, zurück, der aus einem mit Fußbodenheizung versehenen, gefliesten, nackten Raum bestand. Eine in ebenfalls reißfestes Material eingenähte Matratze und ein Loch im Boden, in welches man seine Notdurft verrichten musste – das waren die wenigen Einrichtungsgegenstände. Und das einzige Bekleidungsstück bestand aus einer superdünnen Unterhose, die in Fetzen riss, sofern man sie beim Anziehen nicht mit der nötigen Feinfühligkeit behandelte.

      Auch ich habe leider meine Erfahrung mit dieser Räumlichkeit machen müssen, doch dazu später.

      Jetzt wird Ihnen vor allem unter den Nägeln brennen, zu erfahren, weshalb ich in den Knast kam. Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Allerdings muss ich dafür etwas weiter ausholen. Aber ich habe ja jede Menge Zeit. Und Sie wohl auch. Sonst hätten Sie doch wohl nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, sich diesen meinen geistigen Ergüssen zu widmen …

      Am dreizehnten September des Jahres 1996 befand ich mich zwei Stunden vor regulärem Dienstende auf der A9 in Richtung Eisenberg. In der Ferne grummelte es: Eine Gewitterfront zog auf. Meine letzte Adresse lautete „Mühltal 6 – Waldgasthof Naupoldsmühle“. Zwei Pakete waren auszuliefern. Ich hätte mein Ziel mit verbundenen Augen finden können; das Mühltal war mir seit meiner Jugend durch zahlreiche Ferienaufenthalte bekannt.

      Ich nahm die Abfahrt nach Bad Klosterlausnitz, durchquerte den Ort und schlug dann in Weißenborn den Mühltalweg zur Meuschkensmühle ein, der einer schmalen, improvisierten Straße glich. In der Zeit meiner Kindheit war diese unbefestigt und für Kraftfahrzeuge tabu; lediglich Anwohner, Zulieferer, Polizei, Feuerwehr, forstwirtschaftliche Fahrzeuge, die „Schnelle medizinische Hilfe“, wie die Rettungswagen früher hießen, und noch einige wenige Fahrzeuge mehr besaßen die Erlaubnis, sie zu nutzen. Ansonsten begegneten dem Wanderer lediglich Fahrradfahrer und Kremser. Und andere Wanderer.

      War die Straße bereits für kleinere Personenkraftwagen nicht ohne stete Konzentration des Fahrers zu meistern, stellte sie für mich und meinen UPS-P45-Sprinter geradezu eine Herausforderung dar. Begegnen sich in einer der zahlreichen Kurven, ja selbst auf gerader Strecke, zwei Lieferwagen, heißt es für einen von beiden, bis zur nächsten Straßenverbreiterung zurückzusetzen, um den anderen vorbeifahren lassen zu können. Ohne Beifahrer als Einweiser ein Kunststück. Nebenbei nicht ungefährlich – die Rauda, der Mühlenbach, folgt der Straße unmittelbar zur Rechten oder Linken – je nachdem, in welche Richtung man sich bewegt. Außerdem ist das Ganze mit erheblichem Zeitaufwand verbunden.

      Das Gewitter zog rasch näher; aufgewirbelter Staub und Tannennadeln nahmen mir die Sicht. Mit einem Schlag brach Dunkelheit herein, hin und wieder von Blitzen erhellt, und als ich die Meuschkensmühle passiert hatte, begann es wie aus Kübeln zu gießen. Der Sturm heulte. Kiefern- und Fichtenzapfen prasselten aufs Dach. Man konnte die Hand vor Augen kaum sehen, geschweige denn die Straße. Oder das, was die Eingeborenen und die hiesige Straßenbaumeisterei dafür hielten.

      Ich schaltete in den zweiten Gang herunter und nahm den Fuß vom Gas, bereit, sofort mit beiden Füßen auf Kupplung und Bremse zu steigen, so es notwendig werden sollte. Die Scheibenwischer auf schnellstes Intervall gestellt und die Nase fast an der Frontscheibe, tastete ich mich voran. Jeder Fußgänger hätte mich jetzt überholt. Trotz Wetterkapriolen.

      Nach der Wende hatte man die Straße nicht nur asphaltiert, sondern auch ein paar bauliche Maßnahmen gegen Erdrutsche unternommen. Dennoch waren solche nicht auszuschließen. Und gegen Windbruch gab es auch keine Versicherung. Wenn mir jetzt ein umstürzender Baum auf den Sprinter oder gar in die Frontscheibe krachte …

      Gleißende Helligkeit schoss bis in die hintersten Winkel meines Hirns; ein Donnerschlag unmittelbar darauf, als sei eine Bombe detoniert. Der Wagen wankte. Instinktiv zog ich den Kopf ein, schloss die Augen. Mein rechter Fuß trat das Bremspedal durch das Karosserieblech, der linke rutschte von der Kupplung. Es war, als prallte der Sprinter gegen ein unsichtbares Hindernis, mein Oberkörper ruckte nach vorn – dann erstarb der Motor. Ich konnte es fühlen, doch nicht hören; das Inferno der entfesselten Naturgewalten ließ solches nicht zu. Und die Granaten, die zu Hunderten in meinem unmittelbaren Umfeld einzuschlagen schienen, wollten mir überdies die Trommelfelle zerreißen …

      Bereits ein paar Minuten später ebbte das Blitzlichtgewitter ab. Ich kam allmählich zu mir. Der erste Gedanke: „Ich habe es überlebt!“ Der zweite: „Bis jetzt jedenfalls.“ Der dritte: „Bin ich noch auf der Straße?“ Diese Frage schien Vorrang zu haben und berechtigt zu sein, stand doch der Sprinter, wie ich jetzt bemerkte, seltsam schief, als sei mir der Motor bergauf verreckt. Badete der Transporter womöglich mit dem Hinterteil im Bach? Trotz der Schwüle in meiner Kabine rieselte es mir eiskalt den Rücken hinunter. Wenn dem so sei, könnte ich mich aus eigener Kraft nicht befreien. Allradantrieb hin oder her. Der P45 war kein Jeep, der sich mittels eines um einen Baumstamm gewundenen Drahtseils und einer Winde – wie Baron von Münchhausen an den eigenen Haaren mitsamt Gaul – selbst aus dem Sumpf herauszuziehen vermochte.

      Ich fingerte eine Zigarette aus der Brusttasche meiner Dienstbekleidung, brannte sie an, zwang mich zur Ruhe und begann, Selbstgespräche zu führen: „Wenn ich aufgeraucht СКАЧАТЬ