Название: Mord auf der Messe
Автор: Uwe Schimunek
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955520540
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Die ganze Stadt war voller Menschen. Eggebrecht und Katzmann liefen durchs Gedränge. Der Reporter schwieg, und Eggebrecht musste an seine Kindheit denken. Jedes Jahr am Messe-Sonntag hatte Vater die ganze Familie in die Straßenbahn gepackt – seine Schwestern, die Mutter und ihn. Zu fünft spazierten sie in ihren Ausgehanzügen unter den Werbebannern hinweg durch das Gedränge: die Petersstraße entlang, über den Markt, durch die Grimmaische Straße bis zum Augustusplatz. Für die Arbeiterfamilie aus Lindenau im Leipziger Westen waren die meisten Produkte unerschwinglich. Vater wollte dennoch auf dem Laufenden sein, die neuesten technischen Entwicklungen zumindest gesehen haben. Statt der Maschinen konnte sich der Vater nur die Bücher über den technischen Fortschritt leisten. Heinz Eggebrecht dachte an die Romane von Kurd Laßwitz, die er aus Vaters Bücherschrank nehmen durfte. Beim Messebummel guckte Familie Eggebrecht mit staunenden Augen in die Schaufenster und Buden. Die Schwestern fanden das bald langweilig und tollten herum, sprangen durchs Gewühl wie Flöhe durch ein Hundefell. Nach ein paar Minuten hatten Vater und Mutter vor allem darauf achten müssen, dass Helma und Helga nicht verlorengingen …
Eggebrecht dachte in letzter Zeit immer öfter an seine Kindheit in der Kaiserzeit. Damals hatte er vor allem eines gewollt: raus. Raus aus dem Leipziger Westen, weg von der Plackerei für karge Löhne. Weg von den Arbeiterkneipen, in denen stolze Proletarier nach dem zehnten Bier von der «Relulution» lallten, bevor sie unter den Tisch fielen.
Gleich nachdem er den Krieg überlebt hatte, war er deswegen in die bürgerliche Südvorstadt gezogen. Ein Großteil seines Lehrlingsgehaltes ging für das Zimmer zur Untermiete drauf. Es war ungefähr so groß wie eine Besenkammer, aber dafür konnte er zwischen Handwerksmeistern, Ladenbesitzern und Gymnasiallehrern wohnen.
Inzwischen zählte er selbst zu diesen Bürgern. Und nun erschien ihm seine Lindenauer Kindheit immer freundlicher – so, als hätte zwischen Leutzscher Holz und Lindenauer Markt immer die Sonne geschienen. Und so, als wäre in Berlin, wo er jetzt wohnte, immer November.
Abgesehen von der Ermanox, mit der er seine Photos schoss, nahm er nach wie vor kaum am technischen Fortschritt teil. Wozu auch? Er brauchte kein Automobil und kein Motorrad. Die Bahnen fuhren ihn in Berlin, wohin er wollte. Und einen eigenen Fernsprecher, wie ihn die Großbürger in ihren Villen hatten, brauchte er auch nicht. So oft war er nicht zu Hause. Nur einen Radioempfänger … ja, das wäre etwas, worauf es sich zu sparen lohnte.
Ein Mann rempelte ihn an. Heinz Eggebrecht schaute auf. Der Mann war Mitte vierzig, trug einen leger geschnittenen Sakko und hatte die Haare mit Pomade zu einem schwarzen Helm geformt.
«Oh, Pardon!» Der Mann sprach weich, als habe er die Daunen aus seinem Kissen verschluckt. Offenkundig ein Franzose.
«Schon gut.» Eggebrecht strich sein Jackett glatt, obwohl der Rempler dem Stoff nichts hatte anhaben können. Er guckte zu Katzmann, der stand neben ihm und schien sich nicht weiter für den Mann zu interessieren.
«’ätten Sie Freundlischkeit, misch sag’n, wo ist Marktplas?» Ganz klar ein Franzose. Der konnte froh sein, dass er hier unter netten Sachsen war! Eggebrecht musste daran denken, wie er in Paris versucht hatte, zu einem Phototermin zu gelangen. Sein Französisch ging sicher nicht als adlig durch, aber das größere Problem schien ihm, dass diese Franzosen einen Deutschen nicht verstehen wollten. Doch jetzt, wo er die Chance zur Rache hatte, kam er nicht aus seiner Haut und sagte: «Aber selbstverständlich. Sie gehen einfach die Grimmaische Straße hinunter.» Eggebrecht überlegte, ob er den Franzosen vielleicht in der Reichsstraße abbiegen lassen und ein paar Kilometer durch die Stadt schicken sollte. Aber sein Arm zeigte gen Markt. Eggebrecht fühlte sich wie eine Marionette seiner Erziehung, als würde die Gastfreundschaft ihn zum Deppen machen.
«Werde isch finde Üntergründmesse’aus?»
«Aber sicher, das können Sie gar nicht verfehlen. Gleich wenn Sie auf den Markt kommen, rechter Hand.» Eggebrecht kam sich vor wie einer dieser modernen Fließbandarbeiter, nur dass er keine Waren produzierte, sondern Freundlichkeit. Auch Katzmann neben ihm grinste.
Der Franzose nickte, deutete eine Verbeugung an. Es sah aus, als wolle er losgehen, doch dann zögerte der Mann, griff in die Innentasche seines Jacketts.
Die Bewegung wirkte beiläufig, beinahe etwas zu unauffällig für Eggebrechts Geschmack. Es war diese einstudierte Natürlichkeit, die Trickbetrüger auf Berliner Volksfesten und anderen Menschenaufläufen an den Tag legten. Seine Kollegen, die aus dem Gewühl berichteten, hatten ihm viele Gruselgeschichten erzählt. Er selbst bewegte sich deshalb mit äußerster Vorsicht zwischen Menschen. Auch jetzt tastete seine Hand nach der Brieftasche.
«’aben Sie ein ’inweis, wo isch kann Geld tauschen?» Der Franzose hatte ein Bündel Scheine aus dem Jackett gezogen und wedelte damit herum.
Wenn er darauf spekuliert hatte, seine Devisen hier loszuwerden, befand er sich auf einem Irrweg. Eggebrechts Hand drückte die Brieftasche gegen die Brust. Sein Kopf wusste, dass die Geldbörse leer war wie ein Euter nach dem Melken. Er sagte: «Auf dem Markt werden Sie sicher ein Bankhaus finden.»
«Was willst du auf dieser Messe, Genosse? Reicht es nicht, wenn die Wirtschaftsredaktion von diesem Auflauf der Kapitalisten berichtet?» Leistner lehnte im Sessel hinter seinem Schreibtisch. Der Qualm der Tabakspfeife folgte seinen Worten und gab dem Gesagten etwas Bedrohliches.
Katzmann kratzte sich an der Stirn. Leistner sprang, seit er Chefredakteur war, immer wieder über seinen Schatten. Das musste Katzmann anerkennen. Die Leipziger Volkszeitung hatte inzwischen einen ernstzunehmenden Wirtschaftsteil, jeden Tag gab es Sportberichte, und sogar der Platz für einen Fortsetzungsroman war geschaffen worden – derzeit bekamen die LVZ Leser Die Metropole von Upton Sinclair mit der Zeitung auf den Tisch. Eugen Leistner tat Gutes, es fiel ihm nur manchmal schwer.
Katzmann sagte: «Aber Eugen, geh mal da raus! Es gibt Unmengen von Menschen, und klar sind da die Bonzen. Aber du weißt doch auch, dass Angestellte, Arbeiter und ganze Familien in die Stadt pilgern. Alle gucken sich den Messetrubel an.»
«Genosse Konrad, du darfst nicht den Blick für die Zusammenhänge verlieren. Es ist Krise – und was machen die Kapitalisten? Sie entlassen die Arbeiter in den Fabriken und geben das Geld für Reklame aus. Ist das richtig?» Leistner zog an seiner Pfeife. Bevor Katzmann antworten konnte, fuhr er fort: «Nein, sage ich. Und weißt du, warum? Weil die Kapitalisten nie das Große und Ganze sehen. Wer soll die Waren denn kaufen, wenn immer weniger Menschen eine volle Lohntüte nach Hause bringen?»
Katzmann musste zugeben, dass diese Argumentation eine gewisse Stringenz hatte. Er kannte sie aus einem Artikel in der Samstags- LVZ. Deswegen hatte er schon einen ganzen Tag Zeit gehabt, nach der Lücke zu suchen. «Zum Beispiel können die Waren exportiert werden. Einer dieser Kapitalisten hat mir gerade erzählt, dass in diesem Jahr der Anteil der Ausländer unter den Messebesuchern steigen wird.»
Leistner paffte. Eine Wolke zog vor seiner Stirn nach oben und zeichnete die Falten über den Augenbrauen weich. «Und dann, Genosse Konrad? Was passiert dann? Dann verlieren die Arbeiter in Frankreich und Polen ihre Arbeit. Dafür wird das Heer der deutschen Arbeitslosen vielleicht etwas kleiner. Aber weil so viele Menschen auf die wenigen offenen Stellen hoffen, wird es weniger Lohn geben und weniger Rechte für die Arbeiter. Wir haben also Arbeitslose im Ausland und Entrechtete in Deutschland. Das kann doch nicht die Lösung sein!»
In Leistners Welt glich der Kapitalismus einer Decke, die immer zu kurz war, an welchem Ende man auch zog. Katzmann behielt den Gedanken für sich, weil er nicht die Nacht bei einer Diskussion in der Redaktion verbringen wollte. Er beschloss, bei nächster Gelegenheit mit Eggebrecht darüber zu sprechen. Der war als freier Photograph schließlich so eine Art Kleinkapitalist.
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