Название: Das Geheimnis der goldenen Brücke
Автор: Michael Kunz
Издательство: Автор
Жанр: Любовное фэнтези
isbn: 9783944224145
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Älter werden als Lösung des Problems? Diesem Irrglauben hing sie zwar schon lange nicht mehr nach, aber es wäre besser gewesen, sie hätte ihm überhaupt nicht nachgehangen. Und weil sie ahnte, dass Peter allmählich begann, den gleichen Fehler zu begehen wie sie in ihrer Kindheit, beschloss sie, ihm auf dem Heimweg die Geschichte von der Mühle des Alters zu erzählen:
„Es war einmal ein junger Knabe, der ging eines Tages zur Mühle des Alters und drehte an ihr im Uhrzeigersinn, damit sie sich schneller bewegte. Dabei sprach er voller Freude: ‚Ihr Menschen, seht, ich bin schon sieben Jahre! Bald werde ich acht Jahre! Bin ich nicht schon ein großer Junge?’ Die Menschen gingen an ihm vorbei und antworteten ihm: ‚Sieben Jahre? Meine Güte, bist du schon ein großer Junge geworden!’ Diese Worte machten den Knaben sehr stolz. So vergingen die Jahre, bis aus dem Knaben ein stattlicher Mann im Alter von 30 Jahren wurde. Abermals besuchte er die Mühle des Alters, betrachtete sie argwöhnisch und mit prüfendem Blick, setzte sich nieder und sah wortlos zu, während die Mühle sich drehte und drehte. Aber es kam schließlich der Tag, an dem er das fünfzigste Lebensjahr erreicht hatte und wieder suchte er die Mühle des Alters auf. Noch einmal wollte er sich nicht niedersetzen und wortlos zusehen, sodass er kurzerhand an der Mühle zu drehen begann, und zwar entgegen dem Uhrzeigersinn. Er hatte sich überlegt, dass es so möglich sein müsse, das Altern zu bremsen. Dabei dachte er sich: ‚Nun bin ich schon 50 Jahre gealtert und vermutlich habe ich die längste Zeit meines Lebens bereits verlebt. Wie gern wäre ich noch einmal sieben Jahre und wüsste das, was ich heute weiß.’ Und ehe er seinen Gedanken zu Ende geführt hatte, kam ein kleiner Junge zu ihm und bat, an der Mühle des Alters drehen zu dürfen. Der Mann ließ ab und als der Junge es erkannte, sprach er: ‚Aber mein Herr, ihr habt ja in die falsche Richtung gedreht!’“
„Was ist aus dem alten Mann geworden?“
„Nun, er ist eines Tages an seinem hohen Alter gestorben.“
„Das macht mich traurig, Mama.“
„Und mich macht traurig, dass du heute Probleme mit anderen Kindern hattest. Aber sei tapfer, du brauchst nämlich keine Angst vor anderen Kindern haben. Sie haben vielleicht zu Hause keine lieben Eltern.“
Peter richtete seine großen, goldbraunen Augen auf Anna: „Werden diese Kinder mal anders sein?“
„Das ist schwer zu sagen... Ja, vielleicht! Aber wenn nicht, werden sie ihren Kindern weitergeben, dass Streit die Probleme lösen kann.“ Anna blieb stehen, stellte den Ranzen ab, kniete sich zu Peter hinunter und packte ihn mit beiden Händen an seinen Schultern. Mütter machen das gerne, um eindringlich auf ihr Kind einzuwirken, meistens mit Vorwürfen wie: Was hast du dir dabei gedacht? Sie blickte ihm tief in die Augen und betonte mit ernstem Gesichtsausdruck: „Das tut es aber nicht!“
„Mama, ich wünschte, ich wäre ein Vogel. Frei wie ein Vogel! Dann würde ich hoch in die Lüfte schweben und die Welt von oben beobachten. Ich würde das Apfelbäumchen in unserem Garten sehen, hinunter segeln und einen Apfel abzupfen. Ja, und ich würde mich wieder vom Wind nach oben treiben lassen, den Apfelstiel im Schnabel. Und irgendwann würde ich einen bösen Menschen finden, tief unten in den Städten. Dann würde ich runter fliegen, aber nicht zu tief, damit mich niemand sieht und dann würde ich den Apfel fallen lassen, dass er genau auf diesen bösen Menschen trifft.“
Mit breit ausgestreckten Armen ahmte Peter einen Vogel nach und lief dabei, mit seinem Schatten spielend, in Schlangenlinien um Anna herum. Schließlich blieb er vor ihr stehen, verschränkte seine Arme hinter dem Rücken wie ein Häftling, blickte zu ihr hoch und fuhr fort: „Weißt du, was ich dann machen würde? Lachen! Ganz laut lachen!“
„Ach, wenn du ein Vogel wärst, würdest du dich nicht freuen. Keinen Augenblick wärst du glücklich darüber. Du würdest alles sehen, was die Menschen tun. Gutes und Schlechtes. Und du würdest alles hören, auch das Boshafte, was in den engen Gassen getuschelt wird. Du würdest dir dann wünschen, ein Maulwurf zu sein. Der sieht nichts. Der hört nichts. Der lebt in einer anderen Welt, tief unter der Erde. Und vielleicht ist es sogar eine glücklichere Welt.“
„Ich wünschte, du wärst ein Zauberer und könntest diese Welt in ein Paradies verzaubern.“
„Aber mein Kind, die Welt muss man gar nicht verzaubern. Man muss nur die Leute verzaubern, die darauf leben. Man muss sie in Menschen verzaubern.“
„Wer kann so etwas machen?“
„Jeder. Jeder Mensch kann in seinen Träumen zaubern wie eine Fee. Und wühlen wie ein Maulwurf. Und auch schweben wie ein Vogel.“ Bei dem letzten Satz lachte sie, denn die Fantasie ihres kleinen Jungen beeindruckte sie.
„Wenn ich groß bin, zeigst du mir dann das mit dem Träumen?“
„Auf jeden Fall, mein Schatz!“
„Und solange ich das noch nicht kann, Mama, träumst du mir die Welt schön, versprochen?“
„Großes Mama-Ehrenwort!“
„Du, Mama.“
„Hhm?“
„Das Leben ist so...“ Peter brach den Satz ab. Ihm fiel nicht das richtige Wort ein, deswegen bot ihm Anna eines an. Eines, das zumindest für einen Erwachsenen ganz treffend gepasst hätte.
„Schwierig?“
„Doof! Das Leben ist doof!“ Bei diesen Worten lief eine Träne über die weichen Konturen seines Gesichtes.
„Ach, mein Kind, sag doch nicht so etwas! Du bist erst sechs Jahre alt! Das Leben kann sehr schön sein. Aber das ist es nur, wenn du auf Entdeckungsreise gehst. Und dazu musst du dein Herz öffnen und bereit sein, das Leben so anzunehmen, wie es ist. Du wirst viele Farben aufspüren, die du vorher noch nie bemerkt hast. Deine Urgroßmutter hat immer gesagt: Nur wer die Farben des Lebens kennt, kann das Geheimnis der goldenen Brücke lüften.“
*
„Folge meinem Schatten!“, stöhnte ES. „Ich werde dir den Weg zur goldenen Brücke schon zeigen. Das Leid wird deine Sinne schärfen.“ Dann lachte ES Furcht erregend.
*
„Wo ist die goldene Brücke?“
„Ich weiß es nicht. Aber dein Herz kann es dir sagen. Denn es begleitet dich überall hin. Auch in die Träume.“
Wäre Peter dreißig Jahre älter, würde er vermutlich gegenhalten, dass man manche Farben lieber nicht aufspüren sollte. Vermutlich würde er dann das Gespräch mit einem Satz beenden wie: „Wenn ich alle düsteren Tage zusammen nähme und würde um diese Zeit später auf die Welt kommen, wäre ich wohl erst sechs Jahre.“
Wie gut, dass Peter tatsächlich erst sechs Jahre alt war.
*
Am nächsten Tag, als die Schule nach dem Pausengong ihre Schüler wie zähflüssigen Haferbrei ausspuckte, war Peter zwar nicht gleich der Erste, der den Pausenhof betrat. Gut, es rollte dann noch eine ganze Lawine von Kindern auf den Hof, aber schließlich sah man auch Peter in der Menge.
Er war der Letzte.
Eine schmächtige Gestalt, schwarze, gelockte Haare im Kurzhaarschnitt. Er trug eine blaue Jeans und einen schwarzen Pullover mit einer Mickey СКАЧАТЬ