Название: Memento Mori
Автор: Mark Benecke
Издательство: Автор
Жанр: Медицина
isbn: 9783944180045
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In unserem Körper gibt es etwa zweihundert verschiedene Zelltypen, die jeweils ganz spezielle Aufgaben erfüllen. Zellen der gleichen Sorte haben die gleiche charakteristische Gestalt: Nervenzellen etwa sind oft lang gestreckt, und Schweißdrüsenzellen sind becherförmig. Der einheitlichen Form entsprechen gleiche Aufgaben – Nervenzellen leiten elektrische Signale weiter, Schweißdrüsenzellen produzieren Schweiß.
Jede Zelle enthält eine Arbeitsanweisung. In den Zellen der Schweißdrüse ist die genaue Anleitung zur Herstellung von Schweiß niedergeschrieben. Dieses Rezept befolgen die Zellen sehr genau. Auch Nervenzellen beachten eine innere Anleitung. Sie erzeugen elektrische Signale, die im Körper ganz bestimmte Vorgänge steuern, etwa den Schlag der Augenlider. Erreicht das Nervensignal sein Ziel (in unserem Beispiel das Augenlid), zucken die Muskelzellen dort zusammen, weil genau das ihre vorgegebene Aufgabe ist; sie können nicht anders.
Sind Zellen also regelrechte Fachidioten, die nur jeweils eine einzige Aufgabe erfüllen können? Tun sie immer, was der innere Plan vorschreibt? Ja, aber das ist nicht alles. Fast alle Zellen tragen einen stillen Schatz in sich, den sie normalerweise niemals nutzen. Er besteht aus Information.
Jede Zelle besitzt nicht nur den Plan für ihre eigene Spezialaufgabe, sondern auch die Anleitungen und Rezepte aller anderen Zelltypen. Das heißt umgekehrt: Die meisten Pläne, die eine Zelle mit sich herumschleppt, braucht sie gar nicht. Wo eine Zelle im Körper liegt und wie sie auch aussieht, ihr Wissensschatz ist genauso groß wie der jeder anderen Zelle desselben Körpers. Eine menschliche Schweißdrüsenzelle trägt die Anleitungen für den Bau von Adern, Knochen und Gehirnmaterial in sich, obwohl sie diese Dinge niemals herstellt. Und wenn es nur um die Information ginge, könnte eine Nervenzelle genauso gut Fett produzieren wie die entsprechenden Zellkollegen im Gesäß. Nur – sie tut es nicht. Das hat zwei Gründe.
Erstens beauftragt niemand die Zellen damit, auf einmal eine andere Funktion auszuüben. Dazu gibt es auch keinen Grund. Warum sollte eine Nervenzelle im Gehirn die Aufgabe einer Gesäßzelle übernehmen müssen? Zweitens haben die Zellspezialisten oft schon eine Lage im Körper eingenommen, die ihnen eine neue Aufgabe unmöglich macht, selbst wenn sie zu einer solchen veranlasst würden. Eine in den Knochen eingemauerte Zelle kann keine Tränen nach außen entlassen, und eine Fettzelle kann nicht am Denken teilnehmen. Dazu müsste sie ins Gehirn wandern, sich dort sehr lang strecken, sich mit Isoliermaterial umhüllen und Anschlüsse zu Nerven bilden. Ein Ding der Unmöglichkeit. Warum also werfen die Zellen ihre überflüssigen Baupläne nicht fort?
Sie tun es nicht, weil die scheinbar überflüssigen Informationen sehr wertvoll sein können. Das ist ein Überbleibsel aus alten Tagen, als die unsterblichen Geschöpfe entstanden, die später in diesem Buch beschrieben werden. Diese Lebewesen bestanden aus einer einzigen Zelle und benötigten fast alle Arbeitsanleitungen, weil sie alles selbst tun mussten. Denn obwohl es nötig war, Nahrung aufzuspüren, zu erbeuten und zu verdauen, gab es noch keine speziellen Seh-, Kaumuskel- oder Darmzellen.
Manchmal ist es auch beim Menschen nützlich, dass jede Zelle noch alle Pläne in sich trägt: Einige Zelltypen können nicht nur eine spezielle Arbeitsvorschrift lesen, sondern je nach dem Zustand der Umgebung auch zuvor überflüssige Anleitungen. Wenn eine Wunde heilt und anschließend die passenden Gewebe – meist Haut und Muskeln – wieder eingebaut werden, sind solche Multitalente am Werk. Meistens schwimmen sie im Blut herum und warten nur darauf, dass ein Unfall passiert. Sobald das Notsignal kommt, werden sie im Blutstrom an Ort und Stelle transportiert. Dort verhalten sie sich wie ein Notarzt, der am Unfallort das jeweils geeignete Instrument aus seinem Rettungskoffer zieht. Blutverklumper, Stoffe, welche die Bildung neuer Haut und Muskeln fördern, sowie schmerzlindernde Substanzen sind nur einige der Hilfsmittel, über die solche Rettungszellen (Thrombozyten, Leukozyten und Fibroblasten) verfügen.
Die Geheimschrift des Lebens kann jeder lesen
Wie sehen nun all die Rezepte, Karten und Pläne aus, von denen die Rede ist? Woraus bestehen sie? Sie liegen in den langen Molekülfäden, auf denen sich auch die Anleitungen für das Altern und Sterben finden. Wenn man ewig leben möchte, muss man also den Informationsfaden verändern, und dazu muss man genau wissen, wie er aufgebaut ist und wo auf ihm die einzelnen Anleitungen stehen.
Manchmal nennt man den Informationsfaden auch Erbsubstanz. Die Eigenschaften des Körpers, zum Beispiel die Augenfarbe oder Form der Nase, können durch den Informationsfaden von den Eltern auf die Kinder übertragen, also vererbt werden. Der chemische Name der Säure ist kompliziert. Er lautet deoxyribonucleic acid, zu Deutsch: Desoxyribonukleinsäure. Weil Wissenschaftler ebenso bequem sind wie alle anderen Menschen, kürzen sie den englischen Namen mit DNA ab. Der ausgeschriebene chemische Name hört sich etwas exotisch an und erinnert ein wenig an malerische Indianerwörter. Übersetzt heißt er: »saurer Zucker aus dem Kern der Zelle, der zu wenig Sauerstoff hat«.
DNA ist tatsächlich eine Säure, ähnlich wie die in Zitronen oder Essig, aber sie ist viel komplizierter zusammengesetzt. Im Zitronensaft schwimmen Zitronensäurebausteine in Wasser herum. Entzieht man dem Saft das Wasser, zum Beispiel durch Erhitzen, lagern sich die Bausteine zu einem hübschen Kristall zusammen. Solche Kristalle mögen gut schmecken und in der Sonne glitzern, aber sie sind auch einfältig. In ihnen kann keine Information gespeichert oder verschlüsselt sein, weil sie aus lauter gleichen Untereinheiten bestehen. Es ist ähnlich wie beim Schreiben, einer menschlichen Art der Informationsübermittlung: Man kann so viele gleiche Buchstaben aneinander reihen, wie man möchte: Ein Wort oder ein Satz kommt dabei nie heraus.
Der DNA-Faden einer Zelle besteht aus vier verschiedenen Arten von Säurebausteinen. Mit ihnen lassen sich Informationen verschlüsseln und speichern, genauso wie wir es beim Schreiben durch Buchstabenkombinationen tun: Die vier Bausteine des Informationsfadens sind in Dreiergruppen hintereinander angeordnet, bilden also gewissermaßen lauter Wörter aus drei Buchstaben. Lesemoleküle der Zelle nehmen sich dann der Reihe nach jede Dreiergruppe vor und Übersetzen sie in einen Zellbaustein. Es gibt vierundsechzig Dreiergruppen oder »Wörter«, von denen einige allerdings dieselbe Bedeutung haben. Mit ihnen sind alle Bau- und Arbeitspläne der Zellen geschrieben.
Ein bildhaftes Beispiel: Die vier Säurebausteine (»Buchstaben« oder Basen) heißen abgekürzt A (für Adenin). C (für Cytosin) , G (für Guanin) und T (für Thymin). Angenommen, ein Stückchen eines solchen Informationsfadens besteht aus der erfundenen Reihenfolge CCCGTTAAG. Sehr stark vereinfacht gesagt, erkennt der Leseapparat: CCC = Fett. GTT = am. AAG = Fuß. Heraus kommt also: Fett am Fuß. Es handelt sich um eine der Fettzellen, die am Anfang des Kapitels erwähnt wurden.
Die übersetzten Dreiergruppen ergeben in Wirklichkeit natürlich keine Worte oder Anweisungen. Die Zelle benutzt stattdessen Moleküle. Das macht aber eigentlich keinen Unterschied. Fett könnte wirklich entstehen, wenn auch nicht genau wie im angeführten Beispiel. Es sind einige molekulare Umwege nötig, und die Zelle braucht dazu eine Kette von mindestens zehntausend »Buchstaben« (das sind ungefähr dreißig Seiten dieses Buches). Die meisten Anleitungen in lebenden Zellen sind noch viel länger. Sie enthalten sogar Bereiche mit wirren Zeichenkombinationen, die der Leseapparat nicht versteht und durch Tricks »überspringen« muss.
Die Übersetzung der Anweisung in der DNA kann heutzutage schon jeder Schüler durchführen. Dazu nimmt man eine Zelle, bringt sie zum Platzen, zieht den Informationsfaden heraus, indem man Alkohol daraufgießt, und steckt den Faden in ein Plastikröhrchen mit einer Salzlösung. Das Röhrchen kommt in einen Apparat, der gerade halb so groß ist wie eine Waschmaschine. Das Gerät erkennt die »Buchstaben« A, C, G und T und druckt sie der Reihe nach aus. Steckt man das Röhrchen abends in diese Maschine, so ist am nächsten Morgen eine Seite mit einer Unmenge von C, G, A und T fertig gestellt. Wenn man Lust hat, kann man die Dreiergruppen nun selbst lesen. (Im Normalfall überlässt man diese Arbeit jedoch einem Computerprogramm. Es übersetzt СКАЧАТЬ