Название: Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch
Автор: Peter Langer
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783874683913
isbn:
Die Konkurrenz mit anderen Großindustriellen mag Reusch veranlasst haben, seinerseits Vorstellungen über deutsche Annexionen zu entwickeln und offensiv an die Reichsregierung heranzutragen, damit die GHH bei der Verteilung der erwarteten Beute nicht ins Hintertreffen geriet. In der Akte findet sich nämlich die Abschrift eines Briefes des Saarindustriellen Röchling, jetzt als Rittmeister an der Westfront, an Handelsminister von Sydow mit sehr konkreten Vorstellungen über die anzugliedernden Gebiete in Lothringen. In Röchlings Eingabe werden die deutschen Investitionen aufgelistet; die GHH wird dabei jedoch nicht erwähnt. Für Röchling war „vor allen Dingen der Gesichtspunkt maßgebend, dass Deutschland in den Besitz der französischen Erzvorräte in Lothringen gelangen muss. Damit wäre unsere deutsche Weltmachtstellung auf dem Gebiete der Industrie sehr erheblich gestärkt, da wir dadurch in den Besitz des größten Erzvorkommens von Europa gelangen, des Haupterzvorkommens von Frankreich, dessen Eisenindustrie infolgedessen vollkommen von Deutschland abhängig werden würde, soweit es [sic] nicht bei der Annexion dieser Gebietsteile selbst deutsch würde.“11 Danach spielte der in die Uniform des Rittmeisters geschlüpfte Großindustrielle mehrere aus seiner Sicht denkbare Varianten der neuen Grenzziehung durch.
Reusch zog sofort nach und diente dem Minister Delbrück als Ergänzung zu seinem Vortrag eine ausführliche Denkschrift über die wirtschaftlichen Aspekte an. Bei der Flächenberechnung der Eisenerzfelder in Französisch-Lothringen kam Reusch zu dem Ergebnis, dass für ca. 10.000 Hektar (von insgesamt 73.500 Hektar) noch keine Abbau-Konzessionen vergeben waren. Für den Herrn Minister wurden diese Flächen auf einer beigelegten Karte farbig markiert – wohl mit der eindeutigen Absicht, die Interessen der GHH ins Spiel zu bringen. Französische Besitzer der Erzgruben und der Hütten- und Stahlwerke waren zu enteignen. Die Kosten für die Entschädigung hatte Reusch auch schon kalkuliert: „Es dürfte also zur Enteignung der gesamten Bergwerks- und Hüttenindustrie rund 1.000.000.000 Mark notwendig sein.“12 Diesen Betrag von 1 Milliarde Mark hob Reusch in seinem Anschreiben als „ungefähren Wert der zu enteignenden Eisenerz- und Hüttenwerke“13 noch einmal besonders hervor. Im Siegesrausch der ersten Kriegswochen gingen Industrielle wie Reusch ebenso wie die Reichsregierung davon aus, dass die Regierung des geschlagenen Frankreich für diese Entschädigungszahlungen würde aufkommen müssen.14
Bis ins Detail konkretisierte der Konzernherr der GHH seine Ideen über die „Steigerung der Roheisen-Produktion infolge Einverleibung von Französisch-Lothringen in das Deutsche Reich“ und den „Einfluss dieser Erhöhung auf die Deutsche Eisenindustrie“ sowie „Forderungen handelspolitischer Art an Frankreich“.15 Er erwartete eine – dann „inner“-deutsche – Steigerung der Roheisenproduktion um etwa 3,8 Millionen Tonnen und befürchtete als Folge davon allenfalls für kurze Zeit eine „Erschütterung des Eisenmarktes in Deutschland“.16 Denn „die außerordentlich günstigen Absatzverhältnisse“ der Werke in Lothringen würden nach Reuschs Ansicht „zweifellos voll und ganz erhalten bleiben“.17 Den – dann deutschen – Werken würde es „nicht schwer fallen“, weitere Absatzgebiete im Ausland „zu erobern“, denn die Selbstkosten der Eisen-Produzenten würden „die niedrigsten der ganzen Welt“ sein. Vor allem das geschlagene Frankreich fasste Reusch als Absatzgebiet ins Auge, da Frankreich „nach einem verlorenen Krieg einen wesentlich höheren Bedarf an Roheisen und Stahl haben wird, als seine eigene Produktion beträgt, welche nach Abtrennung Lothringens auf 1.600.000 Tonnen zurückgehen würde.“ 2 bis 3 Millionen Tonnen Roheisen und Stahl würde „Frankreich nach einem verlorenen Krieg“ brauchen, „um seine Bedürfnisse zu befriedigen“.18 Mit „Bedürfnissen“ war zweifellos auch der Wiederaufbau nach den immensen Zerstörungen durch die deutsche Armee gemeint. „Der Lieferant Frankreichs an Roheisen und Stahl [wird] zweifellos auch in Zukunft Lothringen bleiben, wobei allerdings Voraussetzung ist, dass im Friedensvertrage den Produkten der deutschen Eisen- und Stahlindustrie eine gewisse Bevorzugung gesichert ist.“ Mit der Meistbegünstigungsklausel dürfe sich dabei Deutschland nicht zufrieden geben. Man werde „vielmehr verlangen müssen, dass für Eisen und Eisenwaren eine tarifarische Bevorzugung gegenüber jedem anderen Land für alle Zeiten vertraglich festgelegt wird.“ Ganz konkret schlug Reusch für den Friedensvertrag eine Bestimmung vor, „dass der Zollsatz für deutsches Eisen und deutsche Eisenwaren keinesfalls mehr als die Hälfte das Zollsatzes betragen darf, der irgendeinem anderen Land eingeräumt wird.“19 Als umsichtiger Geschäftsmann kalkulierte Reusch auch das Risiko ein, dass Frankreich die Eisenzölle ganz aufheben könnte; dieses Risiko schätzte er aber als gering ein, da Frankreich bestimmt seine Eisenindustrie in der Normandie und an der Loire durch Zölle schützen würde und da selbst bei freier Einfuhr die Werke in Lothringen klare Wettbewerbsvorteile gegenüber allen anderen Ländern haben würden.
Der Friedensvertrag musste nach Reuschs Dafürhalten nicht nur die Zölle, sondern auch alle anderen Rahmenbedingungen des internationalen Handels so festlegen, „dass irgendwelche Begünstigung ausländischer Eisenindustrie seitens Frankreichs zum Nachteile des Deutschen Reiches ausgeschlossen ist.“ Im Layout hob er dann den Schlusssatz ganz besonders hervor: „Im Falle, dass Französisch-Lothringen dem Deutschen Reiche einverleibt wird, geht die jährliche Eisenerzförderung Frankreichs von 21,6 Millionen Tonnen auf 2 Millionen Tonnen zurück, da nicht weniger als 19,5 Millionen Tonnen Eisenerz im Jahre in Französisch-Lothringen (Briey, Longwy, Nancy) gefördert werden.“20
Der von Reusch handschriftlich korrigierte Entwurf der Denkschrift für Innenminister Delbrück gewährt weitere interessante Einblicke in die Denkweise Reuschs und seiner engsten Mitarbeiter. Demnach hatte Bismarck 1871 die Grenze des Deutschen Reiches nicht weit genug nach Westen verschoben: „Während man beim Abschluss des Frankfurter Friedens im Jahre 1871 der Ansicht war, das ganze Eisenerzvorkommen in Lothringen dem Deutschen Reiche einverleibt zu haben, stellte es sich später im Laufe der Jahre heraus, dass sich dieses Vorkommen, allerdings in größerer Teufe, aber auch in großer Mächtigkeit, nach Westen über die französische Grenze hinaus fortsetzt. Die durch die größere Teufe verursachte Erhöhung der Gestehungskosten wird jedoch mehr als ausgeglichen durch den höheren Eisengehalt des Erzes auf französischem Gebiet.“21 Mit der Erschließung dieser Eisenerzfelder habe Frankreich seine Erz-Förderung und seine Produktion von Roheisen bis 1913 gewaltig steigern können. Nach einem kurzen Hinweis auf die umfangreichen Investitionen deutscher Firmen in der Normandie, wobei das Eigeninteresse der GHH unerwähnt bleibt, gibt Reusch konkrete Empfehlungen für die Abwicklung der „territorialen Einverleibung des französischen Erzbezirkes von Französisch-Lothringen“. Die Erfahrung habe gelehrt, „dass alle nationalen Unternehmungen, welche im Jahre 1871 in französischen Händen geblieben sind, bis zum heutigen Tage, … ausnahmslos in französischem Sinne verwaltet werden und alle Angestellten und Arbeiter vom Besitzer oder Leiter bis zum letzten Mann französisch gesinnt bleiben. Eine Germanisierung des eroberten Gebietes ist m.E. nur möglich, wenn die gesamte Groß-Industrie und die Erz-Konzessionen, welche in dem einzuverleibenden Gebiet gelegen sind, enteignet werden, soweit sie sich nicht schon in deutschen Händen befinden.“22 Diese Enteignung sei durch das Reich gegen Entschädigung23 durchzuführen. Die Überführung in deutschen Privatbesitz könne „nach dem Friedensschluss ohne Schwierigkeiten allmählich durchgeführt werden. … Um der französischen Regierung beim Abschluss des Friedens diesen Eingriff in das private Eigentum etwas schmackhafter zu machen, könnte äußerstenfalls seitens der Reichsregierung zugestanden werden, dass auch die in deutschem Besitz befindlichen Erzfelder der Normandie vom französischen Staat unter voller Entschädigung der Besitzer enteignet werden.“24 Diese von der Enteignung in der Normandie betroffenen deutschen Firmen – u.a. also die nicht ausdrücklich erwähnte GHH – müssten dann aber „bei Abtretung von Erzkonzessionen СКАЧАТЬ