Название: Die Tage von Gezi
Автор: Martin Niessen
Издательство: Автор
Жанр: Короткие любовные романы
isbn: 9783957442017
isbn:
Mine
Mine hatte sich kurz nach Marc verabschiedet. Den Plan, im Park zu übernachten, hatte sie auf dem Rückweg zum Taksim-Platz aufgegeben und war stattdessen nach Hause gegangen. Nicht, weil Vedat sie darum gebeten hatte, sondern weil das Zelt ihrer Freundin Şebnems ihr in ihrem reichlich angeschickerten Zustand plötzlich viel zu unbequem vorkam. Es war so klein, dass Mines Isomatte nicht mehr neben Şebnems Luftmatratze gepasst hatte. Bäume hin, Bäume her, sie wollte in ihrem eigenen Bett schlafen. Vedat war noch wach gewesen, als sie heim kam. Und sauer. Sie hatten sich gestritten.
Es war eine Grundsatzdiskussion geworden. Sie sprach, mit schwerer Zunge, von der Verantwortung des Einzelnen und meinte den Park, er von Verantwortung dem Partner gegenüber und meinte sie. Irgendwann im Laufe der Nacht – sie diskutierten lange – hatte Vedat mit der Hand auf den Küchentisch geschlagen und geschrien, dass es reiche, dass sie, seine Frau, doch einmal auf ihn hören könne. Sie hatten sich beide erschrocken. Vedat fand als Erster die Sprache wieder.
»Es tut mir leid, ich habe das nicht so gemeint. Ich mache mir nur Sorgen. Natürlich kannst du dich für Bäume einsetzen, aber ich habe heute in der Kaserne gehört, dass die Stadtverwaltung sich die Besetzung des Gezi-Parks nicht länger gefallen lassen will. Es heißt, dass Sondereinheiten zusammengezogen werden, um den Park vollständig zu räumen. Auch wir wurden heute Nachmittag in Alarmbereitschaft versetzt.«
Den Park vollständig räumen? Mine konnte nicht glauben, was ihr Mann ihr da gerade gesagt hatte. Das würden die tun? Sie war schlagartig nüchtern und vergaß über diese Nachricht sogar, dass Vedat zum ersten Mal, seit sie sich kannten, den Herrn im Hause hatte raushängen lassen. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Fassung zurückerlangt hatte.
»Gut, dann müssen du und deine Kollegen mich halt mit Gewalt aus dem Park heraustragen!«
Dann stand sie wortlos auf und ging ins Bett. Als Vedat kam, tat sie, als ob sie schliefe.
Am nächsten Morgen war Vedat bereits weg, als sie mit pochenden Kopfschmerzen und einem ziemlich ekligen Geschmack im Mund um viertel vor neun aufwachte. Vor lauter Ärger hatte sie sich vor dem Zubettgehen noch nicht einmal die Zähne geputzt. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel. »Ich rufe dich nachher an. Sei bitte vorsichtig. Ich liebe dich!«, stand da in Vedats ordentlicher, wenn auch etwas kleiner Handschrift. Mine löste eine Kopfschmerztablette in Wasser auf, trank mit zittriger Hand, duschte und zog sich an, packte ein paar frische Klamotten in ihren Tagesrucksack – Schlafsack und Isomatte, sie hatte einfach Vedats genommen, waren ja noch in Şebnems Zelt im Park – und ging los. Als sie ihr Mobiltelefon in die Hand nahm, um Marc auf dem Weg eine SMS zu schreiben, erschrak sie und blieb stehen. Das Telefon zeigte ihr Dutzende verpasste Anrufe und mindestens genauso viele SMS im Eingangsordner an. Sie tippte die SMS zu Ende, dann begann sie zu lesen. Die Polizei hatte den Park gestürmt! Während sie gemütlich zu Hause im Bett gelegen hatte, um ihren Rausch auszuschlafen! Wut kochte in ihr hoch. Auf diese Faschisten von der Stadtverwaltung und der Polizei! Und auf sich selbst, weil sie nicht da gewesen war, um ihren Freunden beizustehen. Glücklicherweise hatte sich Şebnem offensichtlich rechtzeitig in Sicherheit bringen können, eine der Nachrichten und zahlreiche Anrufe waren von ihr. Und soweit sie es anhand der Informationen auf ihrer Mailbox beurteilen konnte, war auch anderen Freunden nichts passiert, was angesichts des Lärms, der im Hintergrund der aufgezeichneten Gespräche wütete – sie hörte Schreie, Explosionen, Motorengeräusche, die wahrscheinlich von den Wasserwerfern herrührten, die in den Park eingedrungen waren, und Polizeisirenen –, fast ein Wunder war.
Şebnem meldete sich bereits nach dem ersten Klingeln. Ihre Freundin klang müde und gleichzeitig irgendwie aufgekratzt.
»Mine, da bist du ja! Alles gut bei dir?«
»Ja, bei mir ist alles gut. Ich habe zu Hause geschlafen. Aber das erzähle ich dir alles gleich. Wie geht es dir? Wo bist du?«
»Ich bin mit den anderen auf dem Taksim-Platz. Ich habe nichts abbekommen. Die anderen auch nicht. Aber wir werden wieder in den Park gehen, sobald sich die Polizei zurückzieht.«
»Okay, ich bin gleich da.«
Mine rannte zur Metrostation Osmanbey und nahm den nächsten Zug nach Taksim, während sie in diversen sozialen Netzwerken die Nachrichten zu den Ereignissen der Nacht und des Morgens überflog. Es waren so viele, dass sie gar nicht dazu kam, auch noch die zahlreichen Videos anzuschauen, die da gepostet worden waren. Şebnem und sie hatten sich vor der Filiale einer amerikanischen Kaffeehauskette neben dem Marmara Hotel verabredet. Auf der zu dem Café gehörenden Terrasse saß bereits ihre Freundin, zusammen mit ein paar jungen Leuten, von denen Mine nicht alle kannte. Sie grüßte in die Runde und umarmte Şebnem, als sei ihre Freundin gerade von einer jahrelangen Weltreise zurück oder gar von den Toten auferstanden. Şebnem befreite sich lachend aus ihrer Umklammerung.
»Hol dir erst einmal einen Kaffee, den brauchst du, so wie du aussiehst. Bist du oder bin ich mit Gas eingenebelt worden?«
Mine war froh, dass ihre Freundin schon wieder lachen und Witze machen konnte. Sie stand gerade an der Kasse, als sie eine Nachricht von Marc bekam. Er sei auf dem Weg zum Dolmabahçe, schrieb er. Und dass er sich melden würde. Mine tippte eine kurze Antwort ins Handy und setzte sich dann mit ihrem Latte macchiato im Pappbecher und einem Schokoladenmuffin zu den anderen.
»Erzähl!«
Und Şebnem begann zu erzählen. Dass sie am Vorabend, als Mine mit Meltem, Serap, Erol und dem Engländer verschwunden war, mit ein paar Freunden noch ein spontanes Konzert im Park besucht und heftig mitgetanzt hatte. Dass sie dann irgendwann, weit nach Mitternacht, in ihr Zelt gegangen war, sich aber keine Sorgen gemacht hatte, dass Mine nicht da war, weil sie sie ja mit den anderen unterwegs wusste, und bald einschlief. Dass sie aufwachte, weil plötzlich alle um sie herum zu schreien und mit Sprechchören begannen: »Gezi bizim, Taksim bizim«. Dass sie noch gar nicht richtig aus dem Zelt gekrochen war, als plötzlich alle wegrannten und die ersten Tränengasgranaten zwischen den Zelten einschlugen. Dass sie im Halbdunkel СКАЧАТЬ