Название: Die Tage von Gezi
Автор: Martin Niessen
Издательство: Автор
Жанр: Короткие любовные романы
isbn: 9783957442017
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Mine hörte sprachlos zu, während der ungekaute Bissen des Muffins vom Speichel zu einem Brei verarbeitet wurde und ihr schließlich in den Rachen lief, sodass sie einen Hustenanfall bekam. Als sie sich schließlich gefangen hatte, krächzte sie nur noch:
»Scheiße, Vedat hat mir gesagt, dass es so kommen würde. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell passiert.«
Sie erzählte Şebnem von dem Streit mit ihrem Mann.
»Ich hätte dich direkt anrufen müssen, um dich zu warnen. Es tut mir leid. Diese Bastarde!«
In diesem Moment klingelte Mines Telefon. Es war ihre Mutter, die sich ganz aufgeregt erkundigte, wo sie sei und wie es ihr gehe. Mine beruhigte sie, sagte, dass es ihr gut gehe und dass sie zu Hause geschlafen hätte. Den ersten Teil der Frage ignorierte sie und würgte das Gespräch ab. Es sei gerade schlecht, sie würde sich später melden. Sie drehte sich wieder zu ihrer Freundin um.
»Ich rufe jetzt Marc an, weißt du, der englische Journalist, mit dem ich gestern unterwegs war. Dem musst du das alles erzählen.«
Bevor Şebnem irgendetwas erwidern konnte, hatte Mine bereits Marcs Nummer gewählt, es klingelte auch, aber er ging nicht dran. Marc war ein guter Typ, fand sie. Nicht optisch, groß und blond zwar, mit markantem, scharf geschnittenem Gesicht und sympathischen Lachfalten um die Augen, aber zu schlaksig für ihren Geschmack. Und auch ein bisschen zu alt, er könnte ja fast ihr Vater sein. Aber er hatte Humor und unglaubliche Geschichten von seinen Einsätzen als Reporter erzählt. Gleichzeitig strahlte er eine große Ruhe und Besonnenheit aus. Marc hier zu wissen würde ihr Sicherheit geben, denn Şebnems Erzählungen hatten ihr, auch wenn sie es natürlich nicht zugab, doch etwas Muffensausen bereitet. Sie probierte es wenig später ebenso erfolglos noch einmal. Es klingelte lange, bis die Ansage kam, dass der angerufene Teilnehmer vorübergehend nicht zu erreichen war. Als alle ihren Kaffee ausgetrunken hatten, ging die kleine Gruppe über den Platz zum Eingang des Parks. Die Polizisten ließen sie passieren. Es war deutlich voller als gestern Nachmittag, stellte Mine überrascht fest. Und das knapp sechs Stunden, nachdem die Polizei den Park geräumt hatte. Was für eine Strategie verfolgen die Behörden?, dachte Mine, und dass sie Vedat anrufen müsse. Vielleicht wusste er ja, was die Polizei vorhatte. Durch die verschiedenen Eingänge sah sie Menschen in den Park strömen, die meisten jung, aber auch viele, die deutlich älter waren als sie und ihre Freunde, manche sogar im Alter ihrer Eltern. Şebnem und sie machten sich auf, um ihr Zelt zu suchen. Da, wo es gestanden hatte, stand nun ein neues. Im Gras daneben leuchtete etwas rot – ein angekokeltes Stück Schaumstoff, der sich bei näherer Betrachtung als Rest von Vedats Luftmatratze entpuppte. Soll er sie sich doch von seinen tollen Kollegen ersetzen lassen, dachte Mine mit plötzlicher Bitterkeit.
Die beiden beschlossen, mit der Metro zu einem Einkaufszentrum zu fahren, in dem es ein Outdoorgeschäft gab. Sie suchten sich zwei günstige Schlafsäcke aus, zwei einfache Isomatten aus Schaumstoff und ein Zweimannzelt. Da es Şebnems Zelt gewesen war, das die Polizei bei der Räumung zerstört hatte, bezahlte Mine das neue. Ihre Eltern waren großzügig, vor allem ihr Vater steckte ihr immer wieder Geld zu, zusätzlich zu dem Konto, das er für sie eingerichtet hatte und monatlich mit einer Summe auffüllte, mit der sie ziemlich gut über die Runden kam, ohne neben dem Studium arbeiten zu müssen.
Zurück im Park suchten sie sich einen Platz, was gar nicht so einfach war, denn es schien fast, als ob halb Istanbul im Gezi-Park zelten wollte. Die Zahl der Demonstranten war im Laufe des Tages auf sicherlich zehntausend angewachsen, an provisorischen Ständen wurden kostenlos Essen und Getränke ausgeben, die Sympathisanten gespendet hatten. Zum Schutz gegen Tränengas wurden Masken verteilt, wie sie Mediziner im Operationssaal trugen, oder solche, die Bauarbeiter oder Handwerker benutzen, wenn es bei der Arbeit ordentlich staubt. Medizinstudenten hatten ein mit einem roten Kreuz markiertes Pavillonzelt aufgestellt. Auf zwei Tischen standen neben Verbandsmaterial und Pflaster auch Sprühflaschen mit einer wässrigen Lösung bereit.
»Das ist Maaloxan.«
Şebnem hatte ihren fragenden Blick richtig interpretiert.
»Ein Medikament gegen Magenbeschwerden, das mit drei Teilen Wasser gemischt wird und das Gas neutralisiert.«
»Woher weißt du das? Hast du, ohne dass es mir aufgefallen ist, von Jura auf Medizin umgesattelt?«
»Nein.«
Mines Freundin lachte.
»Das hat mir Ersin erklärt, der schlaksige Typ mit dem Anarchie-A auf dem T-Shirt, der eben mit Kaffee trinken war, weißt du? Der ist nicht nur Medizinstudent, sondern auch sehr erfahren mit Reizgas. Er ist in der ÇARŞІ.«
ÇARŞІ, die schon legendäre Fanvereinigung von Beşiktaş, dem Fußballclub, dessen Stadion unterhalb des Taksim-Platzes am Bosporus lag. Mine hatte nicht viel Ahnung von Fußball, Vedat zog sie mit ihrer Unkenntnis immer auf, aber sie interessierte sich einfach nicht dafür. Doch die ÇARŞІ kannte selbst sie. ÇARŞІ hieß eigentlich nur »Markt«, aber genau daher kamen die Mitglieder dieser eingeschworenen Truppe: aus den engen Gassen des Stadtteils Beşiktaş, nördlich des Dolmabahçe gelegen, mit seinen kleinen Läden und Fischrestaurants. Wenn Fenerbahçe der Club der Neureichen war und Galatsaray der der Mittelklasse, dann war Beşiktaş der Arbeiterverein, mit traditionell politisch links stehender Anhängerschaft. Und weil sich die ÇARŞІ nicht an das Verbot politischer Äußerungen in Fußballstadion hielt, sei es auf Bannern oder in den Fangesängen, gab es nach fast jedem Heim- und so manchem Auswärtsspiel Auseinandersetzungen mit der Polizei.
»Gut zu wissen.«
Mine hakte Şebnem unter und sie schlenderten weiter. Es schienen immer mehr Menschen in den kleinen Park zu drängen. Zelte wurden aufgebaut, Banner zwischen Bäume gehängt, mit Botschaften wie »Wir geben unseren Park nicht her« oder »Taksim gehört uns«. Menschen hockten in großen Gruppen zusammen, junge und alte, Männer und Frauen, einfach gekleidete und Anzug tragende. Es wurde diskutiert, viel gelacht und Musik gemacht. Ein friedliches Bild, dachte Mine, hätten etliche Demonstranten nicht Motorrad- oder billige Bauarbeiterhelme getragen, in Gelb oder Blau, und Ski- oder Schnorchelbrillen und Mundschutze um den Hals hängen gehabt, die Mine daran erinnerten, dass hier vor wenigen Stunden noch Chaos und Gewalt geherrscht hatten und durchaus die Gefahr bestand, dass es erneut dazu kommen könnte.
Sie versuchte erneut, Marc anrufen, aber er antwortete nicht. Sie hatte gerade wieder aufgelegt, als ihr Telefon klingelte. Es war Vedat.
»Hey Süße, wo bist du?«
»Wo wohl? Im Park natürlich!«
Während er offensichtlich Süßholz raspelte, wollte sie keinen Hehl daraus machen, dass der Streit der letzten Nacht für sie noch nicht vergessen war.
»Hör mir bitte zu, Mine.«
Vedats Stimme klang fast flehentlich,
»Ich СКАЧАТЬ