Название: DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT
Автор: Klaus Hübner
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783957658609
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Oft gelobt und kaum gelesen
Doch sind nicht historisch-kritische Ausgaben immer auch tonnenschwere Grabplatten? Von Rückert, dem Viel- und vielleicht Zuvielschreiber mit einem unglaublich umfangreichen, noch immer nicht völlig erschlossenen Werk, gibt es kaum etwas, was dem heutigen Lesergeschmack entgegenkommt, keinen Roman und überhaupt kaum Prosa. Seine Formenwelt, klassisch-romantisch plus orientalisch-üppig, ist die seiner Zeit. Wer aber wird sich für den jungen Lyrikstar der Befreiungskriegsjahre interessieren? Welche von kunstsinnigen Bürgertöchtern des 19. Jahrhunderts einst auswendig hergesagten Verse kennt denn man überhaupt noch? Wird man sich mit den ergreifenden Kindertotenliedern näher befassen, bloß weil deren Vertonungen durch Gustav Mahler bis heute immer wieder aufgeführt werden – »Du bist ein Schatten am Tage / Und in der Nacht ein Licht; / Du lebst in meiner Klage / Und stirbst im Herzen nicht«? Gustav Mahler war nicht allein – auch Franz Schubert, Robert Schumann, Johannes Brahms, Franz Liszt und noch Max Reger haben manche Perle aus dem Werk des aufrechten Franken aufgespürt und musikalisch veredelt. Aber deshalb Rückerts Gedichte lesen? Sich für seine Nachdichtungen des Hafiz oder Firdusi interessieren, sich gar für seine lyrische Lieblingsform erwärmen, das Ghasel? Dafür findet sich heutzutage wohl kaum noch Publikum. Einen Orientalistik-Professor und kongenialen Kulturwissenschaftler zu studieren, der aus nicht weniger als vierundvierzig Sprachen mit siebzehn Schriftsystemen übersetzte, ist erst recht eine Beschäftigung für Spezialisten. Seufz! Aber es hilft nichts, auch sein verdienter und äußerst rühriger Schweinfurter Fanclub (www.rue⮯ckert-gesellschaft.de) wird zustimmen müssen: Friedrich Rückert im frühen 21. Jahrhundert, das ist nicht unbedingt der Hit!
Poesie des Interkulturellen
So ganz verständlich ist das nicht. Denn es gibt gute Gründe, diesen in zahllosen Anthologien hervorragend vertretenen Dichter nicht ins bloß Antiquarische absinken zu lassen. Sicher war er ein »Hausdichter des Biedermeier«, wie Hermann Glaser ihn in Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft nennt. Doch ob das »Biedermeier-Etikett« auch heute noch den Zugang zu einer angemessenen Beurteilung seiner Werke verbaut, wie Richard Dove im Vorwort zu seiner verdienstvollen Ausgabe zuvor unveröffentlichter Gedichte befürchtet, scheint fraglich. Abgesehen davon – aktuelle Anlässe gäbe es auch. Was ist eigentlich momentan angesagter als eine profunde Auseinandersetzung mit »Abendland« und »Morgenland«, dem Zentralthema seines Schaffens? Oder, um noch einmal Glaser zu zitieren: »Gibt es etwas Aktuelleres als den Versuch, durch gegenseitiges Verstehen – nicht nur in politischen und sozialen Fragen – Vertrauen zu gewinnen und somit zu einem versöhnten Miteinander zu gelangen?« Diesen Versuch hat der Übersetzer und Nachdichter Rückert quasi zu seinem Lebenszweck erhoben. Wobei ihm das Kennenlernen des Anderen immer wichtiger war als die Urteile der Philologen: »Der Übersetzung Kunst, die höchste, dahin geht, / Zu übersetzen recht, was man nicht recht versteht.« Den Puristen mag das ein Graus sein – Zeitgenossen wie der in Teheran geborene Münchner Dichter SAID schätzen Rückerts Übertragungen bis heute.
Plädoyer für ein Lesebuch
Er muss einem ja nicht gleich wahnsinnig sympathisch sein. Ja, Rückert war ein biederer, manchmal verstockter, sehr eigensinniger Provinzler und Quartals-Misanthrop, und er war ein trutziger Verfechter eines kleindeutschen Reichs, ein wahrer Patriot, der zeitlebens an seinem noch ungeeinten Vaterland litt und es kurz vor seinem Tod mit Zwölf Kampfliedern für Schleswigholstein kräftig dabei unterstützte, den bösen Dänen eins aufs Haupt zu geben. Seine Liebe zur fränkischen Heimat war innig, seine Aversion gegen moderne Metropolen war es auch – noch heute könnte man überhebliche Hauptstadtbewohner ärgern, indem man Rückert zitiert: »Manchmal gefällt mir es hier nicht recht; dann denk' ich, wie wär dirs, / Wärst du jezt in Berlin? Und es gefällt mir sogleich.« Das war auf seine eher unglücklichen Professorenjahre in Berlin gemünzt und bezeugt einmal mehr, dass Friedrich Rückert zu quasi allen Lebenssituationen und Lebensereignissen Gedichte schrieb. Wie sein keineswegs langweiliges Leben verlief, kann man im ersten Teil einer zum hundertfünfzigsten Todestag neu aufgelegten Studie von Annemarie Schimmel erfahren; dass sich die verdiente Orientalistin im zweiten Teil fast ganz seinen dem Laien höchsten Respekt einflößenden Orientstudien widmet, wird man ihr nachsehen – lernen kann man dabei eine ganze Menge. Und abgesehen vom Lernen – man kann sich von Rückert auch prächtig unterhalten lassen. So wenig beachtet wie heute müssten er und sein Lebenswerk nicht bleiben. Ein aus heutigem Zeitbewusstsein heraus sorgfältig zusammengestelltes Rückert-Lesebuch könnte dazu beitragen. Wer packt es an?
Friedrich Rückert: Gedichte. Hrsg. von Walter Schmitz. Stuttgart 2005: Reclam Verlag.
Friedrich Rückert: »Jetzt am Ende der Zeiten«. Unveröffentlichte Gedichte. Hrsg. von Richard Dove. Frankfurt am Main 1988: Athenäum Verlag (vergriffen).
Friedrich Rückert: Werke. Historisch-kritische Ausgabe (Schweinfurter Edition). Begründet von Hans Wollschläger und Rudolf Kreutner. Hrsg. von Rudolf Kreutner, Claudia Wiener und Hartmut Bobzin. Göttingen 1998 ff.: Wallstein Verlag.
Annemarie Schimmel: Friedrich Rückert. Lebensbild und Einführung in sein Werk. Neuausgabe. Göttingen 2015: Wallstein Verlag.
Was vielleicht bleibt
Noch einmal zu Friedrich Rückert
Das »Rückert-Jahr« 2016 ist vorbei. Die große, in Schweinfurt, Erlangen und Coburg gezeigte »Weltpoet«-Ausstellung war gut besucht, die Wissenschaft hat sich intensiv mit dem fränkischen Dichter, Übersetzer und Orientalisten befasst – Friedrich Rückert ist hunderteinundfünfzig Jahre nach seinem Tod bekannter, als er es vor zwei Jahren war. Ob er auch gelesen wird? Bleiben wird auf jeden Fall der opulente Ausstellungskatalog, den man bis auf Weiteres als das definitive Standardwerk über diesen Poeten bezeichnen darf. Die Festrede zur Eröffnung der Ausstellung, gehalten am 7. April 2016 in Schweinfurt, hatte der 1967 geborene Kölner Islamwissenschaftler und Übersetzer Stefan Weidner übernommen. In der Reihe Göttinger Sudelblätter liegt sie nun gedruckt vor.
Weidner, für den der Dichter – neben vielem anderen – ein »poetisierender Blogger vor der Zeit« war, geht den »untergründigen Korrespondenzen zwischen Poesie und Flucht« nach. Lektüre für Spezialisten? Gewiss! Denn der Autor interpretiert Gedichte und Nachdichtungen Rückerts und stellt dessen Art und Weise des Übersetzens vor – alles in bester Germanistenmanier. Aber nicht nur. Denn Weidner sieht Rückert und seine Zeitgenossen zwischen einem durch die Französische Revolution befreiten politischen Bewusstsein und einem wohl erst 1871 endendem unfreien politischen Sein dazu verurteilt, »mit einer tiefen Zerrissenheit zu leben – einer Zerrissenheit, die heute auf ähnliche Weise in der arabisch-islamischen Welt erlebt wird«. Interessant! Während sich viele Intellektuelle und Künstler nach 1800 der Religion zuwenden, öffnet sich Rückert für die Kultur des Orients – eines Orients allerdings, »der sich aus wenig anderem als aus alten Texten zusammensetzt, nicht aus realen politischen Verhältnissen, geschweige denn lebenden Menschen«. Rückerts Orientvision sei vor allem eine »Chiffre für Andersheit« und damit etwas, was das heute als »Westen« bezeichnete Abendland im 21. Jahrhundert für viele Menschen aus islamisch geprägten Ländern darstellt – »ein offenes Feld für Projektionen«. Spannend! Sicher, niemand glaubt heute mehr an Rückerts Vorstellung von »Weltpoesie als Weltversöhnung«. Die Dichtung aber bleibt, und sie entfaltet weiterhin ihre »subversive Kraft« – zeigt sie doch immer wieder, dass es »andere Formen des Ausdrucks und der Weltwahrnehmung« gibt als die in den Medien präsenten Halbwahrheiten: »Poesie als Fluchthelferin, Schlepperin, Schleuserin in alternative geistige Gefilde.« Wenn uns, wie der Festredner schließt, die Poesie auch heute dabei helfen kann, »die aufdringliche СКАЧАТЬ