Kaum war sie 18 geworden, hatte Vicky die Schule abgebrochen. Das Lernen von Lateinvokabeln und das Pauken von Matheformeln waren ihr so sinnlos vorgekommen. Sie hatte das Haus am Bornkamp verlassen und war zu ihrer Oma Bente nach Kopenhagen geflohen. Natürlich machte Mia sich Sorgen, wie es mit Vicky weitergehen sollte. Ralf Ziegner dagegen, den das nun wirklich gar nichts anging, regte sich nur mächtig auf, wie sie so dämlich sein konnte, kurz vor dem Abi die Schule zu schmeißen.
»Hau doch ab zu deiner Hippie-Oma! Du wirst schon sehen, wo du noch landest! Aber komm bloß nicht hier an, wenn du Kohle brauchst. Von mir kriegst du nämlich keinen Cent, damit das klar ist!«
Da brauchte sich der Arsch wirklich keine Sorgen zu machen. Niemals würde sie einen wie ihn auch nur um ein Glas Wasser bitten – selbst in der Wüste nicht. Er hatte Oma Bente nie getroffen, schien sie aber für eine heruntergekommene Kifferin zu halten, da sie in den 70ern mit ihrem kleinen Sohn ein paar Jahre unter Besetzern in der Freistadt Christiania gelebt hatte.
Ziegner hatte keine Ahnung! Bente hatte ein in ganz Kopenhagen bekanntes Yoga-Studio, lebte im bunt durchmischten Nørrebro in einer geschmackvoll und gemütlich eingerichteten Wohnung und war eine Frau mit klaren Vorstellungen und Ansagen.
Hatte die Enkelin die ersten Wochen in Kopenhagen ziemlich planlos dahingelebt, lenkte ihre Großmutter immer wieder sehr geschickt ihre Gespräche auf mögliche Perspektiven für ihre Zukunft, ließ Vicky sich selbst befragen, was sie wirklich wollte. Und das war gar nicht so einfach, wenn man gerade mal 18 war. Vicky brauchte eine Weile, doch dann kristallisierte sich heraus, dass sie ein freiwilliges soziales Jahr machen würde, was sicher eine Entscheidungshilfe für ihren weiteren Weg bringen würde.
Vickys Telefon klingelte.
»Hej, Bente! Grade hab ich an dich gedacht.«
»Hej! Na hoffentlich waren es gute Gedanken! Wie geht es dir, min slangekrøller?«
Bente sagte oft »mein Löckchen« zu ihrer Enkelin, genau wie früher zu ihrem Sohn Viggo, von dem Vicky die weißblonde Lockenpracht geerbt hatte. Ihre nicht sehr große und etwas stämmige Statur dagegen hatte sie eher Mia zu verdanken, zu ihrem Leidwesen.
»Ach, alles gut eigentlich. Warte bitte mal einen Moment, es pladdert hier grade wie aus Eimern.«
Schnell schob Vicky ihr Rad in den Hausflur.
»So, da bin ich wieder. Ich war gerade bei Mia zum Essen, wie meistens am Dienstag. Und sonst passiert außer Arbeiten und Lernen nicht viel.«
»Flittige pige! War es nett mit Mia?«
»Geht so. Er war leider auch da.«
»Du scheinst den Mann ja wirklich überhaupt nicht leiden zu können. Ist er wirklich so schlimm? Ich kenne ihn ja nicht.«
»Da hast du auch nichts verpasst.«
»Karoline scheint aber ganz gut mit ihm auszukommen.«
»Wenn Karoline will, und vor allem, wenn es ihr nutzt, kommt sie doch mit allen Menschen aus.«
Vicky merkte, wie sie das Thema aufbrachte. Sie wollte diese negativen Gefühle eigentlich nicht, nicht gegenüber ihrer Schwester und schon gar nicht bei einem Telefonat mit Bente.
»Aber lass uns von was anderem reden, Bente. Wie läuft’s bei dir? Was macht das Studio?«
»Ich kann nicht klagen, es läuft super. Es suchen ja immer mehr Menschen nach Wegen für gesunde Entspannung im ganzheitlichen Sinne. Wir sind immer ausgebucht. Gerade haben wir eine fantastische neue Lehrerin für Kurse in Hormon Yoga gefunden. Also, alles gut. Aber sag mal, ich wollte vor allem fragen, wo deine Schwester steckt?«
»Das kann ich dir leider nicht sagen. Mia hat auch schon geklagt, dass Karoline sich nicht meldet …«
»Und mir hatte sie eigentlich für Sonntag ihren Besuch angekündigt. Nach fast zwei Jahren immerhin. Aber sie ist hier nicht aufgetaucht und hat auch sonst nichts hören lassen.«
»Hatte sie denn fest zugesagt?«
»Na ja, nicht so ganz. Wenn sie es schafft, kommt sie mal kurz vorbei, hat sie geschrieben. Ich hab ein paar Mal vergeblich versucht, sie anzurufen, und auf meine Nachrichten hat sie auch nicht reagiert.«
»Dann ist doch alles wie immer, Bente. Unsere Influencerin arbeitet an ihrer Karriere. Soweit ich weiß, wollte sie für Modeaufnahmen nach Dänemark. Sie hätten eine super Location gefunden, hat sie am Sonntag an Mia geschrieben.«
»Weißt du, mit wem sie unterwegs ist?«
»Keine Ahnung. Ich kenne kaum jemanden von Karolines Leuten. Vielleicht mit einem Fotografen. Aber mach dir keine Sorgen. Ihre Karriere ist ihr heilig, da vergisst sie alles andere, auch dich und Mia und mich.«
»Nein, ich sorge mich nicht. Ich kenne deine Schwester ja auch ein bisschen. War schön, dich zu hören, aber ich muss jetzt los, treffe mich gleich mit einer Freundin auf ein Glas Wein. Wann kommst du mich denn mal wieder besuchen?«
»Oh, ich würde so gerne kommen! Im Moment stecke ich in Prüfungsvorbereitungen und schaffe das nicht. Aber sobald ich kann, bin ich da, ich versprech’s!«
»Es wäre mir eine solche Freude, dich mal wieder in meine Arme zu schließen, min skat!«
Nach einer verregneten Nacht war der Mittwoch grau, Feuchtigkeit hing in der Luft, und es war kalt. Wie schon die ganzen Wochen seit Angermüllers Rückkunft, gestaltete sich auch dieser Tag im K1 ruhig und unaufgeregt. Sie waren seit Jahresbeginn zu keinem größeren Einsatz gerufen worden und beschäftigten sich vor allem mit der Aufarbeitung alter Fälle. Alles war fast wie früher. Jansen und Angermüller saßen jeder in seinem engen überheizten Büro, bei geöffneten Türen, sodass sie sich über den Verbindungsflur unterhalten konnten, ohne ihre Schreibtische verlassen zu müssen.
Nur eines war anders: Neben dem betagten Filterkaffeeautomaten, der in ihrem kleinen Flur stets leise vor sich hin gurgelte, produzierte jetzt eine ziemlich luxuriöse Espressomaschine aromatische heiße Shots und herrlich dichten Milchschaum. Jansen hatte sich in ihrer Zweiergemeinschaft all die Jahre für die Zubereitung des Kaffees zuständig gefühlt. Er trank das gefilterte Gebräu in rauen Mengen, und ab und zu nahm Angermüller das Angebot seines Teampartners an und ließ sich ebenfalls eine Tasse servieren. Er bereute es jedes Mal. Mit Kaffee hatte die dunkle Flüssigkeit nicht allzu viel zu tun.
Das chromblitzende Teil, das auch die meisten Kollegen gern und häufig nutzten, war die Hinterlassenschaft von Sebastian Eichhorn, der Angermüller während seiner Auszeit vertreten hatte. Der junge Mann hatte sich eine noch luxuriösere Ausgabe zugelegt, als er sich seiner neuen Freundin wegen überraschend nach Kiel versetzen ließ. Seine alte Espressomaschine hatte er großzügig dem Team vom K1 vermacht.
Hinter vorgehaltener Hand und mit einem Grinsen schilderte man Angermüller, wie Jansen dem jungen Kollegen, als der den Filterkaffeeautomaten gerade ausmustern wollte, das Gerät kurzerhand weggenommen hatte. Er hatte es auf seinen gewohnten Platz gestellt und geknurrt: »Ich will keinen Caffè Crema, oder wie dat Zeug heißt, ich will einfach nur einen stinknormalen Kaffee. Verstanden?«
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