Wenig später lagen goldgelb gegarte Kartoffelscheiben neben dem violettroten Gemüse, auf dem schneeweiße Skreifilets thronten. Schon wollte Georg den ersten Bissen auf die Gabel nehmen, da hielt er inne. Er goss sich von dem dunklen, kräftigen Negroamaro ein, den er so liebte, und hob feierlich sein Glas.
»Auf dich, Heini! Warst ein liebenswerter Mensch, ruhe in Frieden.«
Angermüller wollte sich gerade auf den Weg zur Arbeit machen, als seine Nachbarin mit einem magentafarbenen Rollkoffer aus ihrer Wohnung kam.
»Guten Morgen, Frau Frederiksen. Sie wollen verreisen?«
Er zeigte auf das Gepäckstück.
»Dann wünsche ich Ihnen ein erholsames Wochenende.«
»Ach, ich muss nur zu einem beruflichen Termin«, wehrte die junge Frau ab. In ihrem grauen Hosenanzug, ein ebenfalls magentafarbenes Tuch um den Hals geschlungen, wirkte sie sehr mondän.
»Na dann, trotzdem gute Reise und viel Erfolg!«
Sie lächelte hinter ihrer großen Sonnenbrille, die sie trotz der frühen Stunde an diesem recht trüben Tag schon wieder trug. Wenn sie sich dahinter verstecken will, dachte Angermüller, erreicht sie mit diesem auffälligen Modell eher das Gegenteil.
»Vielen Dank«, antwortete die junge Frau und ging auf hohen Stiefelabsätzen Richtung Ausgang. Auf einmal blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um.
»Könnten Sie mir wohl einen Gefallen tun und mich zu meinem Wagen begleiten? Der steht fast direkt vor der Tür.«
Da seine Nachbarin kein Gepäck außer ihrem Rollkoffer hatte, wunderte sich der Kommissar zwar ein wenig, doch er sagte: »Klar, kein Problem.«
Wie selbstverständlich überließ sie Angermüller ihren Koffer, der ihn gehorsam hinter ihr her zum Auto rollte. Und nun erkannte er auch, warum ihn Frau Frederiksen um seine Begleitung gebeten hatte. Nicht weit von ihrem Wagen entfernt, lehnte der junge Mann von vor zwei Tagen an einem Gartenzaun und sah zu ihnen herüber.
Der Kommissar hievte das Gepäck in den Kofferraum des auffälligen gelben Mini Clubman, in dem bereits eine große Tasche und andere Utensilien lagen, die zu einer Fotoausrüstung zu gehören schienen.
»Vielleicht sollten Sie sich doch überlegen, ob Sie was gegen den jungen Mann unternehmen, wenn er Sie andauernd belästigt«, meinte Angermüller leise, während er den Kofferraum schloss. Frau Frederiksen lächelte und nahm die Sonnenbrille ab.
»Keine Sorge. Außerdem bin ich ja bald zurück. Also dann, mach’s gut, mein Schatz!«, sagte sie, ohne die Stimme zu senken. Sie umarmte Angermüller zum Abschied, gab ihm wieder zwei Küsschen auf die Wangen und stieg in ihr Auto.
»Gute Reise, Tonya!«, rief der am Gartenzaun Wartende herüber.
»Danke, Fabi!«, antwortete Angermüllers Nachbarin freundlich, schloss die Tür und startete den Wagen. Der junge Mann sprintete zu einem am Straßenrand geparkten Motorroller und fuhr hinterher.
Am Dienstag der darauffolgenden Woche versammelte sich eine ansehnliche Trauergesellschaft auf dem Burgtorfriedhof, um Heini Dittmer die letzte Ehre zu erweisen. Jedermann wusste, dass die große Aufmerksamkeit, die man Heinis Abschied entgegenbrachte, nicht nur ihm, sondern vor allem auch seiner Frau Johanna geschuldet war, die der angesehenen Lübschen Kaufmannsfamilie Tiedemann entstammte.
Die Kapelle konnte gar nicht all die Menschen aufnehmen, sodass ein Teil unter dem zementgrauen Märzhimmel stehen musste, was angesichts scharfer, eisiger Windböen ziemlich unangenehm war. Auch Georg hatte den vorwiegend älteren Herrschaften den Vortritt gelassen und trat mit hochgezogenen Schultern von einem Fuß auf den anderen. Mit Bedauern dachte er an seinen langen, warmen Lodenmantel, der ihn zuverlässig vor der beißenden Kälte geschützt hätte.
»Und, Georg, darf ich dich noch um einen Gefallen bitten?«, hatte Astrid zum Schluss gefragt, als sie ihm telefonisch Ort und Zeit für die Bestattung durchgab.
»Ziehst du bitte zur Beerdigung den schicken, kurzen Wollmantel an, den wir mal zusammen gekauft haben?«
Es war eine rhetorische Frage, das wusste Georg sofort. Über ihre Vorstellung von Kleiderordnung konnte man mit Astrid nicht diskutieren. Und seinen geliebten alten Lodenmantel hatte sie schon immer gehasst.
Angermüller war froh, als die Trauerfeier vorüber war und man sich zum beeindruckenden Tiedemannschen Familiengrab bewegte, wo Heini zu seiner letzten Ruhe gebettet wurde. Da er und Astrid noch nicht geschieden waren, zählte Georg offiziell immer noch zur Familie und musste deshalb nicht allzu lange ausharren, um Heini zum Abschied drei Schaufeln Sand und eine weiße Rose ins Grab zu werfen. Und da er den Auftrag hatte, mit seinen Töchtern Heinis hochbetagte Schwester zu dem Traditionscafé am Burgfeld zu fahren, in dem der Leichenschmaus stattfinden sollte, durfte er sich zum Glück alsbald entfernen.
Im Café war es warm. Man reichte Canapés und eine heiße Rinderkraftbrühe, die nach den schneidenden Temperaturen auf dem Friedhof richtig guttat. Natürlich ließ sich am Familientisch die Begegnung mit Astrids beiden Schwestern und ihrem Anhang nicht vermeiden. Sie verlief, wie schon seit Längerem üblich, eher frostig. Abgesehen davon hatte Angermüller unter seiner angeheirateten Verwandtschaft von Anfang an dieses Fremdkörpergefühl empfunden. Gut verstanden hatte man sich nie.
Er schaute sich um. Wo steckte eigentlich Martin? Hatte der wieder gekniffen, wie immer, wenn es schwierig wurde? Na ja, das konnte ihm eigentlich egal sein. Nachdem Kaffee und ein buttriger Streuselkuchen, Beerdigungskuchen, wie sie hier sagten, serviert worden waren, begannen sich viele der Gäste zu verabschieden, so auch Angermüller. Johanna sah erschöpft aus, als sie seine Hand nahm und lange drückte.
»Komm mich doch mal besuchen, Georg«, forderte sie ihn auf, »wir haben heute ja kaum sprechen können.«
Die Einladung freute ihn, und er versprach es. Wahrscheinlich würde sie das Leben allein erst einmal hart ankommen, nach mehr als 50 Jahren, die sie an Heinis Seite verbracht hatte. Er nahm sich vor, der alten Dame so bald wie möglich einmal seine Aufwartung zu machen.
Die Luft im Café war zum Schluss etwas stickig geworden. Weit ausschreitend machte er sich zu Fuß auf den Heimweg und genoss die halbe Stunde an der frischen Luft.
Eine nicht sehr große, etwas rundliche Frau verschloss gerade die Tür der Nachbarwohnung, als Angermüller in den Hausflur trat. Schon ein paar Mal war er ihr begegnet, und immer hatten sie sich freundlich gegrüßt, manchmal ein paar Worte über das Wetter gewechselt. Er nahm an, dass sie in der Wohnung gegenüber putzte. Sie drehte sich nach ihm um, und wie üblich wünschten sie sich Guten Tag.
»Sie sind doch der direkte Nachbar von Tonya. Darf ich Sie was fragen?«, sprach ihn die Frau an, als Angermüller seine Tür aufschließen wollte.
»Ja, sicher.«
»Haben Sie Tonya in den letzten Tagen mal gesehen?«
»Meine Nachbarin? Mmh … das war letzte Woche, da sind wir uns über den Weg gelaufen, sogar zweimal«, sagte der Kommissar nach kurzem Nachdenken. »Warum fragen Sie?«
Für Mode hatte Angermüller sich noch nie interessiert, aber wieder fiel ihm bei dieser Frau ihre fröhlichfarbige Kleidung auf, der türkise Anorak, die orangefarbene Hose, dazu Schal und Stulpen, bunt СКАЧАТЬ