Название: Ur-Gemeinde
Автор: Frank Viola
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783955781477
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Sobald uns in der Bibel das Wort Hirte („Pastor“) begegnet, denken wir unwillkürlich an den Mann, der sonntags predigt.20 Sobald wir auf das Wort Gemeinde („Kirche“) stoßen, denken wir sofort an ein Gebäude oder an den Sonntagsgottesdienst. Fällt uns das Wort Ältester ins Auge, denken wir gleich an die Gemeindeleitung.
Das stellt uns vor die wichtige Frage: Wie kommt es, dass wir unsere eigene Kirchenpraxis so leicht ins Neue Testament hineinlesen können? Wir sind gewohnt, unser Bibelstudium nach der Methode „cut-and-paste“ (ausschneiden und einfügen) zu betreiben. Da werden „Beweisstellen“ aus ihrem Zusammenhang gerissen und neu arrangiert, um eigene Überzeugungen und Handlungen zu legitimieren. Das geschieht meist unbewusst und wird von zwei Faktoren begünstigt. Erstens entspricht die Anordnung der Briefe in unseren Bibeln nicht der Reihenfolge ihrer Entstehung. Zweitens sind sie in Kapitel und Verse eingeteilt.21
Der Philosoph John Locke hat das Problem auf den Punkt gebracht. Er schreibt:
Die Schrift wird zerhackt und auseinandergerissen. So, wie sie jetzt gedruckt wird, ist sie ganz zergliedert. Nicht nur das gemeine Volk gebraucht sie nun aphoristisch [indem es aus ihr Regeln formuliert], selbst gebildeten Männern entgeht beim Lesen nicht nur die Kraft, die in ihrem Zusammenhang liegt, sondern auch die davon abhängige Erkenntnis.22
Wenn das Neue Testament jedoch in chronologischer Reihenfolge und ohne Kapitel- und Verseinteilung gelesen wird, entfaltet sich eine wunderbare Erzählung. Die Geschichte bekommt Fleisch und Blut. Wenn wir das Neue Testament jedoch so lesen, wie es in den gängigen Bibelausgaben vorliegt, lesen wir eine zerstückelte Geschichte. Es fehlt der rote Faden.
Die griechische Mythologie berichtet von einem Mann namens Prokrustes. Er stand in dem Ruf, ein magisches Bett zu besitzen, das die einzigartige Eigenschaft hatte, jeden, der sich hineinlegte, der Größe des Bettes „anzupassen“. War der Gast zu klein, streckte Prokrustes dessen Körper so lange, bis er „passte“. Umgekehrt wurden zu große Gäste grausam gekürzt, bis auch sie „passten“.
Das moderne Kirchenkonzept gleicht einem solchen Prokrustes-Bett. Bibelstellen, die nicht ins Konzept der institutionalisierten Kirche passen, werden „gekürzt“ oder eben so lange „gestreckt“, bis sie ins Konzept passen. Die Methode „cut-and-paste“ erleichtert dieses Vorgehen. Wir reißen verschiedene Verse aus ihrem chronologischen und geschichtlichen Kontext und fügen sie zusammen, um eine bestimmte Lehre oder Praxis zu begründen. Im Gegensatz dazu gibt uns die chronologische Erzählung die Möglichkeit, unsere Schriftauslegung zu prüfen, und hindert uns daran, nach Gutdünken Verse auszuschneiden und einzufügen, damit die Bibel unsere vorgefassten Meinungen stützt.
Tatsache ist, dass ein Großteil unserer gängigen Gemeindepraxis nicht biblisch begründet ist. Solche von Menschen erdachten Bräuche stehen im Widerspruch zum organischen Wesen der Gemeinde. Weder geben sie die Wünsche Jesu Christi wieder, noch spiegeln sie sein Hauptsein und sein herrliches Wesen (wozu die Gemeinde eigentlich berufen ist). Stattdessen bezeugen sie die Inthronisierung menschlicher Ideen und Traditionen. Im Ergebnis ersticken sie den natürlichen Ausdruck der Gemeinde. Und wir rechtfertigen alles mit unserer „cut-and-paste“-Hermeneutik.
Die Beschädigung der gemeindlichen DNA
Einige Christen haben versucht, eine Reihe unbiblischer kirchlicher Praktiken dadurch zu rechtfertigen, dass sie behaupten, die Gemeinde ändere sich je nach Kultur und müsse sich ihrem jeweiligen Umfeld anpassen, in dem sie lebt. Man meint, Gott billige heute ein klerikales System, eine hierarchische Leiterschaft, passives Zuschauerverhalten im Gottesdienst, die „Ein-Mann-Shows“, den Gedanken des „Zur-Kirche-Gehens“ und eine Vielzahl anderer Bräuche, die im vierten Jahrhundert aufkamen, als die Christen die griechisch-römischen Sitten ihrer Umgebung übernahmen.
Ist die Gemeinde wirklich in jeder Kultur anders? Und wenn ja, sind wir dann frei, jede Aktivität in unseren Gottesdienst aufzunehmen? Oder könnte es nicht vielmehr sein, dass die Gemeinde heute sowohl in ihrer Theologie als auch in ihrer Praxis ein Zuviel an moderner westlicher Kultur in sich aufgenommen hat?
Zum Problem der Überkontextualisierung bemerkt Richard Halverson: „Als das Evangelium die Griechen erreichte, verwandelten sie es in eine Philosophie; die Römer machten daraus eine Verwaltung, die Europäer eine Kultur, während das Evangelium in den Händen der Amerikaner zum Geschäft wurde.“23 In Anlehnung an ein Pauluswort ist zu fragen: „Lehrt euch nicht die Natur …?“
Das Neue Testament sieht die Gemeinde eindeutig als eine biologische Wesenheit (vgl. Eph 2,15; Gal 3,28; 1 Kor 10,32; Kol 3,11; 2 Kor 5,17). Sie entsteht dann, wenn der lebendige Same des Evangeliums in die Herzen der Menschen gelegt wird und man ihnen erlaubt, sich ohne äußere Zwänge zu versammeln. Die DNA der Kirche bringt ganz bestimmte erkennbare Merkmale hervor: die Erfahrung authentischer Gemeinschaft, familiärer Liebe, gegenseitiger Unterordnung der Glieder; die Zentralität Jesu Christi; die angeborene Neigung, sich ohne starre Rituale zu versammeln; das instinktive Verlangen nach tiefen Beziehungen mit Jesus Christus als Mittelpunkt; den inneren Wunsch nach Zusammenkünften, in denen man sich frei äußern kann, und den aus Liebe gezeugten Impuls, Jesus einer gefallenen Welt zu offenbaren.
Während die Saat des Evangeliums diese besonderen Eigenschaften ganz natürlich hervorbringt, kann sich der Ausdruck dieser Merkmale von Kultur zu Kultur unterscheiden. Ich habe zum Beispiel einmal in Chile eine organische Gemeinde gegründet. Die Lieder, die die Geschwister schrieben, die Art, wie sie miteinander umgingen, wie sie saßen, und ihr Umgang mit den Kindern – all das unterschied sich von europäischen und amerikanischen organischen Gemeinden.
Die Grundmerkmale der DNA teilen sich jedoch alle Gemeinden. Keine organische Gemeinde hat je einen Klerus, einen einzelnen Pastor, ein hierarchisches System oder eine Gottesdienstordnung hervorgebracht, wodurch die Mehrheit zur Passivität verurteilt worden wäre.
In der Natur gibt es einen blühenden Strauch, die großblättrige Hortensie. Wenn man ihre Samen in einen Boden im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten legt, wird sie lila Blüten haben. In Brasilien oder in Polen werden die Blüten dieser Pflanze dagegen blau, anderswo violett.24
Eine großblättrige Hortensie wird aber niemals Dornen und Disteln hervorbringen oder Orangen und Äpfel. Auch wird sie nie so groß wie eine Kiefer. Warum nicht? Weil die Eigenschaften anderer Pflanzen der Hortensie-DNA fremd sind. So ist es auch mit der Gemeinde Jesu Christi, wenn sie fachmännisch gepflanzt und sich selbst überlassen wird, ohne dass ein Mensch versucht, sie durch institutionelle Zwänge zu bestimmen. Dann bringt sie kraft ihrer DNA ganz bestimmte Merkmale hervor. Wie die großblättrige Hortensie kann die Gemeinde je nach Kultur verschieden aussehen, aber sie behält ihren eigenen unverkennbaren Ausdruck, wenn man ihr nur Raum zur Entfaltung gibt.
Setzen wir Menschen diesem lebenden Organismus nun unser eigenes gefallenes System auf, verliert die Gemeinde ihre organischen Merkmale und es kommt zu Fehlbildungen und Erscheinungsformen, die ihrer eigenen DNA nicht entsprechen.
Lassen Sie mich eine tragische Geschichte erzählen, die dies veranschaulicht. Am 4. November 1970 entdeckte man ein außergewöhnliches dreizehnjähriges Mädchen. Seit frühester Kindheit lebte sie ohne Berührungen und soziale Kontakte. Man СКАЧАТЬ