Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
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Название: Im Reich der hungrigen Geister

Автор: Gabor Mate

Издательство: Автор

Жанр: Здоровье

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isbn: 9783962572174

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СКАЧАТЬ in unserer Nähe, im Schatten des Portland Hotels, haben zwei Polizisten Jenkins in Handschellen gelegt. Jenkins, ein schlaksiger Ureinwohner mit schwarzem, krausem Haar, das bis über die Schultern fällt, ist ruhig und fügsam, als einer der Beamten seine Taschen leert. Er beugt sich mit dem Rücken gegen die Wand, nicht die geringste Spur von Protest im Gesicht. „Sie sollten ihn in Ruhe lassen“, meint Arlene lautstark. „Der Typ dealt nicht. Sie schnappen ihn immer wieder und finden nie etwas.“ Zumindest am helllichten Tag kontrollieren die Polizisten in der Hastings Street mit vorbildlicher Höflichkeit – und nicht, wie meine Patienten sagen, mit der typischen Haltung von Ordnungshütern. Nach ein oder zwei Minuten wird Jenkins freigelassen und verschwindet, ohne etwas zu sagen, mit langen Schritten im Hotel.

      In der Zwischenzeit hat der Dichterfürst der Absurdität innerhalb weniger Minuten die europäische Geschichte vom Hundertjährigen Krieg bis Bosnien aufgearbeitet und sich zur Religion von Moses bis Mohammed geäußert. „Doc“, so Randall weiter, „der Erste Weltkrieg sollte eigentlich alle Kriege beenden. Wenn das stimmt, warum gibt es dann die Kriege gegen Krebs oder Drogen? Die Deutschen hatten diese Kanone Dicke Bertha, die sie auf die Alliierten richteten, aber in einer Sprache, die den Franzosen oder Briten nicht gefiel. Gewehre produzieren ein übles Palaver, sie haben einen schlechten Ruf, Doc – aber sie haben die Geschichte vorangebracht, wenn man überhaupt davon reden kann, dass sich die Geschichte vorwärtsbewegt oder sich überhaupt bewegt. Glauben Sie, die Geschichte bewegt sich, Doc?“

      Da unterbricht Matthew Randalls Debatte – er ist auf seine Krücken gelehnt, dickbäuchig, einbeinig, lächelnd, kahlköpfig und ungemein jovial. „Der arme Dr. Maté versucht nach Hause zu kommen“, sagt er in seinem charakteristischen Tonfall: sarkastisch und zugleich liebenswert aufrichtig. Matthew grinst uns an, als beträfe der Witz alle, nur nicht ihn selbst. Die verschiedenen Ringe, die sein linkes Ohr durchbohren, schimmern im goldenen Licht der späten Nachmittagssonne.

      Eva tänzelt hinter Randalls Rücken hervor. Ich wende mich ab. Ich habe genug vom Straßentheater und will dem jetzt entfliehen. Der gute Arzt will nicht mehr gut sein.

      Wir gehören zusammen, diese Fellini-Figuren und ich – oder sollte ich sagen, wir, diese Fellini-Crew –, vor dem Portland Hotel, wo sie leben und ich arbeite. Meine Klinik befindet sich im ersten Stock dieses vom kanadischen Architekten Arthur Erickson entworfenen Gebäudes aus Beton und Glas, eines geräumigen, modernen und zweckmäßigen Gebäudes. Es ist eine beeindruckende Einrichtung, die ihren Bewohnern gute Dienste leistet und das ehemals luxuriöse Haus aus der Jahrhundertwende um die Ecke ersetzt, das das erste Portland Hotel war. Der alte Ort mit seinen hölzernen Balustraden, breiten und geschwungenen Treppenaufgängen, muffigen Treppenabsätzen und Erkern hatte Charakter und Geschichte, die dem neuen Bollwerk fehlt. Obwohl ich die Aura der Alten Welt vermisse, die Atmosphäre von verblasstem Reichtum und Verfall, die dunklen und abblätternden Fensterbänke, die mit Erinnerungen von Eleganz behaftet sind, bezweifle ich, dass die Bewohner Sehnsucht nach den engen Zimmern, den korrodierten Rohrleitungen oder den Armeen von Kakerlaken haben. 1994 gab es einen Brand auf dem Dach des alten Hotels. Eine Lokalzeitung brachte eine Geschichte und ein Foto, auf dem eine Bewohnerin und ihre Katze abgebildet waren. Die Schlagzeile lautete: „Heldenhafter Polizist rettet Fluffy“. Jemand rief im Portland an, um sich zu beschweren, dass Tiere nicht unter solchen Bedingungen leben sollten.

      Die gemeinnützige Portland Hotel Society (PHS), für die ich als Arzt tätig bin, verwandelte das Gebäude in eine Unterkunft für Obdachlose. Meine Patienten sind zum größten Teil Süchtige, obwohl bei einigen, wie Randall, die chemischen Gehirnprozesse so weit gestört sind, dass sie auch ohne Drogen den Kontakt zur Realität verloren haben. Viele, wie Arlene, leiden sowohl an psychischen als auch an Suchterkrankungen. Das PHS verwaltet mehrere ähnliche Einrichtungen in einem Umkreis von wenigen Häuserblocks: die Hotels Stanley, Washington, Regal und Sunrise. Ich bin als Arzt für alle Häuser zuständig.

      Das neue Portland liegt gegenüber dem Kaufhaus für Armee- und Marinebedarf, wo meine Eltern als Neueinwanderer in den späten 1950er-Jahren den Großteil unserer Kleidung kauften. Damals war dieses Kaufhaus ein beliebtes Einkaufsziel für Berufstätige – und für Kinder aus der Mittelschicht, die auf der Suche nach ausgefallenen Militärmänteln oder Matrosenjacken waren. Draußen auf den Bürgersteigen gab es eine Mischung aus Studenten, die auf der Suche nach etwas Unterhaltung mit dem gemeinen Volk waren, sowie Alkoholikern, Taschendieben, Kauflustigen und Freitagabend-Bibelpredigern.

      Jetzt ist es anders. Die Menschenmengen kommen schon seit vielen Jahren nicht mehr. Jetzt sind diese Straßen und ihre Hinterhöfe zum Zentrum von Kanadas Drogenhauptstadt geworden. Einen Block entfernt stand das verlassene Kaufhaus Woodward mit seinem riesigen, beleuchteten „W“-Schild auf dem Dach, das lange ein Wahrzeichen Vancouvers war. Eine Zeit lang belagerten Hausbesetzer und Anti-Armuts-Aktivisten das Gebäude, doch vor Kurzem wurde es abgerissen. Auf dem Gelände soll ein Mix aus schicken Wohnungen und Sozialwohnungen entstehen. Die Olympischen Winterspiele kommen 2010 nach Vancouver und mit ihnen droht die Wahrscheinlichkeit einer Gentrifizierung dieses Viertels. Der Prozess hat bereits begonnen. Es besteht die Befürchtung, dass die Politiker, die die Welt beeindrucken wollen, versuchen werden, die Suchtkranken zu verdrängen.

      Eva verschränkt ihre Arme, dehnt sie hinter ihrem Rücken und beugt sich vor, um ihren Schatten auf dem Bürgersteig zu betrachten. Matthew kichert über die Yoga-Übungen der Cracksüchtigen. Randall schwafelt weiter. Ich blicke gespannt auf den vorbeiziehenden Berufsverkehr. Schließlich kommt die Rettung. Mein Sohn Daniel fährt vor und öffnet die Autotür. „Manchmal kann ich nicht glauben, dass das hier mein Leben ist“, sage ich und setze mich auf den Beifahrersitz. „Manchmal glaube ich es auch nicht“, nickt er. „Es kann hier ziemlich heftig zugehen.“ Wir fahren los. Im Rückspiegel sehe ich die sich entfernende Gestalt von Eva, gestikulierend, die Beine verrenkt, den Kopf zur Seite geneigt.

      ———

      Das Portland und die anderen Gebäude der Portland Hotel Society stellen ein wegweisendes Sozialprojekt dar. Der Zweck der PHS ist es, ein System der Sicherheit und Fürsorge für marginalisierte und stigmatisierte Menschen zu schaffen – für diejenigen, die „die Erniedrigten und Beleidigten“ sind, um Dostojewski zu zitieren. Die PHS versucht, diese Menschen vor dem zu retten, was ein lokaler Dichter als „Straßen der Vertreibung und Gebäude der Ausgrenzung“ bezeichnet hat.

      „Die Menschen brauchen einfach einen Raum, wo sie sich aufhalten können“, sagt Liz Evans, eine ehemalige Gemeindeschwester, deren soziale Herkunft aus der oberen Schicht mit ihrer gegenwärtigen Rolle als Gründerin und Direktorin der PHS unvereinbar zu sein scheint. „Sie brauchen einen Platz, wo sie leben können, ohne verurteilt, gejagt und belästigt zu werden. Es handelt sich um Menschen, die häufig als Belastung angesehen werden, für Verbrechen und soziale Missstände verantwortlich gemacht und … als Zeit- und Energieverschwendung betrachtet werden. Sie werden selbst von Menschen, die Mitgefühl zu ihrem Beruf gemacht haben, barsch behandelt.“

      Seit den sehr bescheidenen Anfängen im Jahr 1991 ist die Portland Hotel Society gewachsen und inzwischen sehr aktiv. Sie ist an vielen Projekten beteiligt: an einer Nachbarschaftsbank, einer Kunstgalerie für Künstler des Downtown Eastside, dem ersten betreuten Drogenkonsumraum Nordamerikas, einer kommunalen Krankenstation, wo tiefe Gewebeinfektionen mit intravenösen Antibiotika behandelt werden, einer kostenlosen Zahnklinik und an der Portland Klinik, wo ich seit acht Jahren arbeite. Die zentrale Aufgabe des PHS besteht darin, Menschen, die sonst obdachlos wären, einen Aufenthaltsort zur Verfügung zu stellen.

      Die Statistiken sind krass. Eine Überprüfung, die kurz nach der Gründung der PHS durchgeführt wurde, ergab, dass drei Viertel der Bewohner im Jahr vor ihrer Unterbringung mehr als fünf Mal ihre Adresse gewechselt hatten. 90 Prozent waren wegen Verbrechen angeklagt oder verurteilt worden, meist wegen Bagatelldelikten. Gegenwärtig sind 36 Prozent HIV-positiv oder haben Aids, die meisten der Bewohner sind süchtig nach Alkohol oder anderen Substanzen – nach allem von Reiswein oder Mundwasser bis hin zu Kokain oder Heroin. Bei СКАЧАТЬ