Название: Im Reich der hungrigen Geister
Автор: Gabor Mate
Издательство: Автор
Жанр: Здоровье
isbn: 9783962572174
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Keine Gesellschaft kann sich selbst verstehen, ohne ihre Schattenseiten zu betrachten. Ich glaube, dass allen derselbe Suchtprozess zugrunde liegt, sei es der Abhängigkeit meiner Downtown-Eastside-Patienten von tödlichen Substanzen, der verzweifelten Selbstbefriedigung durch übermäßiges Essen oder dem zwanghaften Shoppen, der Besessenheit von Spielern, Sexsüchtigen und zwanghaften Internetnutzern oder dem gesellschaftlich akzeptablen und sogar bewunderten Verhalten von Workaholics. Drogensüchtige werden oft abgelehnt und abgewertet, als verdienten sie kein Mitgefühl und keinen Respekt. Mit dem Erzählen ihrer Geschichten verfolge ich eine doppelte Absicht: Ich möchte dazu beitragen, dass ihre Stimmen gehört werden, und ich möchte Licht bringen in den Ursprung und das Wesen ihres unglückseligen Kampfes um die Überwindung ihres Leidens durch Drogenmissbrauch. Sie haben viel gemeinsam mit der Gesellschaft, die sie ausgrenzt. Auch wenn sie scheinbar einen Weg ins Nichts gewählt haben, haben sie uns anderen noch viel beizubringen. Im dunklen Spiegel ihres Lebens können wir unsere eigenen Umrisse erkennen.
Es gibt eine Reihe von Fragen, die zu berücksichtigen sind, zum Beispiel:
• Was sind die Ursachen von Süchten?
• Was ist das Wesen der suchtgefährdeten Persönlichkeit?
• Was geschieht physiologisch in den Gehirnen von Suchtkranken?
• Wie viele Wahlmöglichkeiten hat der Süchtige wirklich?
• Warum ist der „Kampf gegen Drogen“ ein Fehlschlag und was könnte ein humaner, evidenzbasierter Ansatz zur Behandlung schwerer Drogenabhängigkeit sein?
• Wie könnten einige Süchtige, die nicht von starken Substanzen abhängig sind, erlöst werden – das heißt, wie nähern wir uns der Heilung der vielen Verhaltensabhängigkeiten, die durch unsere Kultur gefördert werden?
Die erzählerischen Passagen in diesem Buch basieren auf meinen Erfahrungen als Arzt im Drogenghetto von Vancouver und auf ausführlichen Interviews mit meinen Patienten – von denen es mehr gibt, als ich anführen kann. Viele von ihnen haben sich freiwillig gemeldet, in der großzügigen Hoffnung, dass ihre Lebensgeschichte anderen helfen könnte, die mit Suchtproblemen zu kämpfen haben, oder dass sie dazu beitragen könnten, die Gesellschaft über Suchterfahrung aufzuklären. Ich präsentiere auch Informationen, Reflexionen und Einsichten, die ich aus vielen anderen Quellen gewonnen habe, einschließlich meines eigenen Suchtmusters. Und schließlich biete ich eine Synthese dessen, was wir aus der Forschungsliteratur über Sucht und die Entwicklung des menschlichen Gehirns und der Persönlichkeit lernen können.
Obwohl die Schlusskapitel Gedanken und Anregungen zur Heilung des süchtigen Geistes bieten, ist dieses Buch keine Anleitung. Ich kann nur sagen, was ich als Mensch gelernt habe, und beschreiben, was ich als Arzt erlebt und begriffen habe. Nicht jede Geschichte hat ein Happy End, wie der Leser herausfinden wird, aber die Entdeckungen der Wissenschaft, die Lehren des Herzens und die Offenbarungen der Seele versichern uns, dass jeder Mensch eine Chance auf Erlösung hat. Die Möglichkeit der Erneuerung besteht, solange es das Leben gibt. Wie wir diese Möglichkeit in anderen und in uns selbst fördern können, ist die ultimative Frage.
Ich widme diese Arbeit all meinen Hungergeister-Gefährten, seien es HIV-infizierte Obdachlose in den Innenstädten, Gefängnisinsassen oder ihre glücklicheren Pendants, die ein Zuhause, eine Familie, einen Arbeitsplatz und eine erfolgreiche Karriere haben. Mögen wir alle Frieden finden.
TEIL I
Der Höllenzug
Was war es eigentlich, was mich zum Opiumesser machte?
Elend, völlige Verlassenheit, bleibende, beständige Dunkelheit.
THOMAS DE QUINCEY
Bekenntnisse eines englischen Opiumessers
KAPITEL 1
Das einzige Zuhause, das er je hatte
Als ich durch die vergitterte Metalltür in den Sonnenschein trete, offenbart sich mir eine Kulisse wie aus einem Fellini-Film. Es ist eine Szene, die zugleich vertraut und fremd, fantastisch und authentisch ist.
Auf dem Gehweg in der Hastings Street sehe ich Eva – in ihren Dreißigern, aber immer noch wie ein verwahrlostes Kind wirkend, mit dunklem Haar und olivfarbenem Teint –, wie sie einen bizarren Kokain-Flamenco hinlegt. Sie schiebt ihre Hüften nach außen, bewegt ihren Oberkörper und ihr Becken hin und her, beugt sich in der Taille, wirft einen oder beide Arme in die Luft und bewegt ihre Füße in einer unbeholfenen, aber abgestimmten Pirouette. Die ganze Zeit verfolgt sie mich mit ihren großen, schwarzen Augen.
In Downtown Eastside ist dieses crackgesteuerte Improvisationsballett als „The Hastings Shuffle“ bekannt, und es ist ein vertrauter Anblick. Eines Tages, als ich auf meiner ärztlichen Visite in der Nachbarschaft unterwegs war, sah ich eine junge Frau, die diesen Tanz hoch über dem Verkehr in Hastings aufführte. Sie balancierte auf dem schmalen Rand eines Neonschildes zwei Stockwerke weiter oben. Eine Menschenmenge hatte sich zum Zuschauen versammelt, die Drogenkonsumenten unter ihnen mehr amüsiert als entsetzt. Die Ballerina drehte sich um sich selbst, die Arme waagerecht wie die einer Seiltänzerin, oder machte tiefe Kniebeugen – eine Kosakentänzerin der Lüfte, ein Bein nach vorne tretend. Bevor die Spitze der Feuerwehrleiter ihre Flughöhe erreichen konnte, hatte sich die bekiffte Akrobatin wieder in ihr Fenster zurückgezogen.
Eva bahnt sich ihren Weg zwischen ihren Gefährten durch, die sich um mich drängen. Manchmal verschwindet sie hinter Randall – einem an den Rollstuhl gefesselten, schwerfälligen, ernst dreinblickenden Burschen, dessen unorthodoxe Gedankenmuster nicht unbedingt auf eine ausgeprägte Intelligenz schließen lassen. Er rezitiert eine Ode autistischen Lobes an seinen unentbehrlichen motorisierten Streitwagen. „Ist es nicht erstaunlich, Doc, nicht wahr, dass Napoleons Kanone von Pferden und Ochsen durch russischen Schlamm und Schnee gezogen wurde? Und jetzt habe ich das hier!“ Mit einem unschuldigen Lächeln und ernster Miene schüttet Randall einen sich wiederholenden Schwall von Fakten, historischen Daten, Erinnerungen, Interpretationen, losen Assoziationen, Vorstellungen und Paranoia aus, der fast vernünftig klingt – beinahe. „Das ist der Code Napoleon, Doc, der die Transportmittel der unteren Ränge und Reihen veränderte, wissen Sie, in jenen Tagen, als diese angenehme Langeweile des Nichtstuns noch verstanden wurde.“ Eva schiebt ihren Kopf über Randalls linke Schulter und spielt Kuckuck.
Neben Randall steht Arlene, die Hände an den Hüften, mit vorwurfsvollem Blick und gekleidet mit knappen Jeans-Shorts und Bluse – was an diesem Ort ein Zeichen dafür ist, dass man auf diese Art sein Geld für Drogen verdient und nicht selten schon in jungen Jahren von männlichen Triebtätern sexuell ausgebeutet wurde.
Über das ständige Murmeln von Randalls Gerede hinweg höre ich ihre Beschwerde: „Sie hätten meine Pillen nicht reduzieren sollen.“ Arlenes Arme tragen Dutzende von horizontalen Narben, die parallel verlaufen, wie Eisenbahnschwellen. Die älteren sind weiß, die jüngeren rot, jede markiert ein Andenken an einen Schnitt mit der Rasierklinge, den sie sich selbst zugefügt hat. Der Schmerz der Selbstverletzung löscht, wenn auch nur vorübergehend, bei ihr den Schmerz eines größeren Schmerzes tief in ihrer Seele. Eines von СКАЧАТЬ