Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
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Название: Im Reich der hungrigen Geister

Автор: Gabor Mate

Издательство: Автор

Жанр: Здоровье

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isbn: 9783962572174

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СКАЧАТЬ Spic‘ Madeleine ein, „packt mich an den Haaren, wirft mich zu Boden und versetzt mir einen Schlag ins Gesicht“. Der Hundert-Dollar-Schein ist gefälscht. „Sie haben mich reingelegt. ‚Oh, Maddie, du bist mein Kumpel, du bist meine Freundin.‘ Ich hatte keine Ahnung, dass es ein gefälschter Hunderter ist.“

      Meine Klienten erzählen oft von „dem Spic“, aber er scheint unsichtbar zu sein, eine mystische Figur, von der ich nur höre. An den Straßenecken in der Nähe des Portland Hotels treffen sich junge, dunkelhäutige Mittelamerikaner mit schwarzen, über die Augen geschobenen Baseballmützen. Wenn ich an ihnen vorbeilaufe, sprechen sie mich im leisen Flüsterton an, selbst wenn ich eindeutig ein Stethoskop um meinen Hals trage: „Upper und Downer“ oder „gute Rocks“. (Upper und Downer ist Junkie-Slang. Upper sind Stimulanzien wie Kokain, und Downer, wie zum Beispiel Heroin, haben eine beruhigende, entspannende Wirkung. Rock steht für Crack/Kokain.) „Hey, siehst du nicht, dass das der Arzt ist?“, zischt gelegentlich jemand. Der Spic könnte durchaus zu dieser Gruppe gehören, aber vielleicht ist der Beiname auch nur ein allgemeiner Begriff, der sich auf jeden von ihnen bezieht.

      Ich weiß nicht, wer er ist oder auf welchem Weg er in die heruntergekommene Gegend von Vancouver gelangt ist, wo er die abgemagerten Frauen mit Kokain und Ohrfeigen versorgt, die stehlen, dealen, betrügen oder billigen Oralsex anbieten, um ihn zu bezahlen. Wo wurde er geboren? Durch welchen Krieg und welche Entbehrungen wurden seine Eltern gezwungen, ihren Slum oder ihr Bergdorf zu verlassen, um ein Auskommen so weit nördlich des Äquators zu suchen? Waren es die Armut in Honduras, Milizen in Guatemala oder die Todesschwadronen in El Salvador? Wie wurde er zu dem Latino, dem Bösewicht der Geschichte, die ich von der spindeldürren, verzweifelten Frau in meiner Praxis erzählt bekomme, die tränenerstickt ihre blauen Flecken erklärt und mich bittet, ihr nicht vorzuwerfen, dass sie letzte Woche beim Methadon-Termin nicht erschienen ist. „Ich habe seit sieben Tagen keinen Juice mehr getrunken“, sagt Madeleine. („Juice“ ist Slang für Methadon, denn das Methadonpulver wird in einem Getränk mit Orangengeschmack aufgelöst.) „Und ich werde niemanden auf der Straße um Hilfe bitten, denn wenn sie dir helfen, schuldest du ihnen dein gottverdammtes Leben. Selbst wenn du es ihnen zurückzahlst, denken sie immer noch, dass du ihnen etwas schuldest: ‚Da ist Maddie, die kriegen wir. Sie wird es uns geben.‘ Sie wissen, dass ich nicht kämpfe. Denn wenn ich mich jemals wehren sollte, würde ich eine von diesen Schlampen umbringen. Ich will nicht den Rest meines Lebens im Knast verbringen wegen einer gottverdammten Fotze, mit der ich mich von vornherein nicht hätte einlassen sollen. So wird’s laufen. Ich kann nur ein gewisses Maß ertragen.“

      Ich gebe ihr das Methadon-Rezept und biete ihr an, wiederzukommen und zu reden, nachdem sie ihre Dosis in der Apotheke bekommen hat. Obwohl Madeleine einverstanden ist, werde ich sie heute nicht mehr sehen. Wie immer lockt der Drang nach dem nächsten Schuss.

      Ein anderer Besucher an diesem Morgen war Stan, ein fünfundvierzigjähriger Ureinwohner, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war und ebenfalls wegen seines Methadon-Rezeptes kam. In den achtzehn Monaten seiner Inhaftierung war er etwas pummelig geworden, was seine bisher bedrohliche Wirkung aufgrund seiner Größe, muskulösen Statur, glühenden dunklen Augen, seines Apachenhaars und seines Fu-Manchu-Schnurrbarts dämpfte. Vielleicht ist er auch milder geworden, da er die ganze Zeit ohne Kokain war. Er schaut aus dem Fenster zum Bürgersteig auf der anderen Straßenseite, wo einige seiner Mitsüchtigen in eine Szene vor dem Armee-Shop verwickelt sind. Es wird viel gestikuliert und scheinbar ziellos hin- und hergelaufen. „Schauen Sie sich das an“, sagt er. „Sie sitzen hier fest. Wissen Sie, Doc, ihr Leben erstreckt sich von hier bis vielleicht zum Victory Square auf der linken Seite und der Fraser Street auf der rechten. Die kommen hier nie raus. Ich will wegziehen, will mein Leben hier nicht mehr vergeuden.“

      „Ach, was soll’s. Schauen Sie mich an, ich habe nicht einmal Strümpfe.“ Stan zeigt auf seine abgelaufenen Schuhe und seine abgewetzte rote Jogginghose mit Gummibündchen ein paar Zentimeter über seinen Knöcheln. „Wenn ich in diesem Outfit in den Bus steige, wissen die Leute sofort Bescheid. Sie wenden sich von mir ab. Einige starren mich an, die meisten schauen nicht einmal in meine Richtung. Wissen Sie, wie sich das anfühlt? Als wäre ich ein Alien. Ich fühle mich erst dann wieder wohl, wenn ich hier zurück bin; kein Wunder, dass niemand jemals geht.“

      Als er zehn Tage später wegen eines Methadon-Rezepts zurückkehrt, lebt Stan immer noch auf der Straße. Es ist ein Märztag in Vancouver: grau, nass und ungewöhnlich kalt. „Sie wollen nicht wissen, wo ich letzte Nacht geschlafen habe, Doc“, sagt er.

      Für viele der chronischen, hartgesottenen Süchtigen in Vancouver ist es so, als ob ein unsichtbarer Stacheldraht das Gebiet umgibt, das sich ein paar Blocks von Main und Hastings aus in alle Richtungen erstreckt. Es gibt eine Welt jenseits davon, aber für sie ist sie größtenteils unerreichbar. Diese Welt hat Angst vor ihnen und lehnt sie ab, und sie wiederum verstehen deren Regeln nicht und können dort nicht überleben.

      Es erinnert mich an einen Gefangenen, der aus einem sowjetischen Gulag geflohen war, und sich, nachdem er draußen fast verhungert war, freiwillig wieder inhaftieren ließ. „Die Freiheit ist nichts für uns“, sagte er seinen Mitgefangenen. „Wir sind für den Rest unseres Lebens an diesen Ort gekettet, auch wenn wir keine Ketten tragen. Wir können fliehen, wir können umherziehen, aber am Ende werden wir zurückkommen.“

      ———

      Menschen wie Stan gehören zu der kränksten, bedürftigsten und am meisten vernachlässigten Bevölkerungsgruppe überhaupt. Ihr ganzes Leben lang wurden sie ignoriert, im Stich gelassen und haben sich ihrerseits immer wieder selbst aufgegeben. Wie entsteht die Bereitschaft einer solchen Gruppe zu helfen? In meinem Fall weiß ich, dass die Wurzeln dazu in meinen Anfängen als jüdisches Kleinkind im 1944 von den Nazis besetzten Budapest liegen. Ich bin mit dem Bewusstsein aufgewachsen, wie schrecklich und schwierig das Leben für manche Menschen sein kann – ohne dass sie etwas dafür können.

      Aber ebenso, wie sich das Einfühlungsvermögen, das ich für meine Patienten empfinde, auf meine Kindheit zurückführen lässt, so gilt dies auch für die intensiven Gefühle der Verachtung, Geringschätzung und Verurteilung, die manchmal aus mir herausbrechen und oft gegen dieselben schmerzgetriebenen Menschen gerichtet sind. Später werde ich darauf eingehen, wie meine eigenen Suchttendenzen auf meine frühkindlichen Erfahrungen zurückzuführen sind. Im Grunde genommen unterscheide ich mich gar nicht so sehr von meinen Patienten – und manchmal kann ich es kaum ertragen zu sehen, wie wenig psychologische Distanz, wie wenig vom Himmel geschenkte Gnade mich von ihnen trennt.

      Meine erste Vollzeitstelle als Arzt hatte ich in einer Klinik in Downtown Eastside. Es war eine kurze, sechsmonatige Anstellung, aber sie hat ihre Spuren hinterlassen, und ich wusste, dass ich eines Tages zurückkommen würde. Als mir zwanzig Jahre später angeboten wurde, Klinikarzt im alten Portland zu werden, ergriff ich die Gelegenheit, weil es sich richtig anfühlte: genau die Kombination aus Herausforderung und Sinngebung, die ich zu dieser Zeit in meinem Leben suchte. Ohne groß nachzudenken, verließ ich meine Hausarztpraxis und wechselte in ein von Kakerlaken verseuchtes Hotel im Stadtzentrum.

      Was zieht mich hierher? Alle, die wir zu dieser Arbeit berufen sind, reagieren auf eine innere Anziehungskraft, die mit denselben Frequenzen schwingt, die auch im Leben der geplagten, ausgelaugten, dysfunktionalen Menschen in unserer Obhut vibrieren. Aber natürlich kehren wir täglich nach Hause zurück, zu unseren anderen Interessen und Beziehungen, während unsere süchtigen Klienten in ihrem städtischen Gulag gefangen sind.

      Manche Menschen fühlen sich zu schmerzvollen Orten hingezogen, weil sie hoffen, dort ihren eigenen Schmerz zu lindern. Andere melden sich freiwillig, weil ihr mitfühlendes Herz weiß, dass ihre Liebe hier am meisten gebraucht wird. Wieder andere kommen aus beruflichem Interesse: Diese Arbeit ist eine ständige Herausforderung. Menschen mit geringem Selbstwertgefühl fühlen sich vielleicht angezogen, weil es ihr Ego nährt, mit solch hilflosen Menschen zu arbeiten. Einige werden von der magnetischen Kraft der Süchte angezogen, weil sie ihre СКАЧАТЬ