Название: Das Übernatürliche
Автор: Gregor Bauer
Издательство: Bookwire
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783906212838
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Auch anatomische Untersuchungen an menschlichen Leichen gab es damals schon, wenn auch gegen die religiösen Verbote der Zeit. Auf diese Weise entdeckte der Mediziner Herophilos von Chalkedon (ca. 330–255 v. Chr.) zusammen mit Erasistratos von Keos (ca. 305–250 v. Chr.) den Unterschied zwischen Arterien und Venen. Der geriet im christlichen Mittelalter (ca. 500–1500 n. Chr.) wieder in Vergessenheit, wie viele andere wissenschaftliche Erkenntnisse des Hellenismus. Warum wohl?
Warum fiel das Mittelalter hinter den Hellenismus zurück?
In der mittelalterlichen Medizin wurden Herophilos und Erasistratos ersetzt durch Galen (129 oder 131 bis 205 oder 215 v. Chr.). Medizinisch war das ein Rückschritt, denn Galens Anatomiekenntnisse basierten auf der Untersuchung von Tierkörpern, nicht von menschlichen Leichen. Aber Galen passte besser zur herrschenden religiösen Ideologie. Denn er betrachtete den menschlichen Körper als Ausdruck göttlicher Macht und Perfektion.
Die christliche Religion, seit dem vierten Jahrhundert nach Christus im Römischen Reich tonangebend, wurde bald zur alles beherrschenden Ideologie. Vom Wesen her autoritär und dogmatisch, war ihr kritisches Denken nicht in die Wiege gelegt. Zur wissenschaftlichen Forschung verhielt sie sich immer wieder gleichgültig bis feindselig.
Besonders vernichtend fällt Jaegers Urteil über die Zeit vom fünften bis zum frühen elften Jahrhundert aus: Er charakterisiert sie als Epoche des kompletten intellektuellen Zerfalls und des Vergessens antiken Wissens. Andere Denktraditionen als die platonische blieben für Jahrhunderte unbekannt.
Erst ab dem 13. Jahrhundert konnte der Verfall des wissenschaftlichen Denkens aufgehalten werden. Selbstständiges naturwissenschaftliches Denken und Forschen gab es in Westeuropa erst wieder ab dem 15. Jahrhundert, als die Kirche bereits ziemlich schwächelte.
Wie hat die islamische Welt im Mittelalter die Wissenschaften gefördert?
An der deprimierenden Situation intellektuellen Stillstands änderte sich erst etwas, als Europa im zwölften Jahrhundert in direkten Kontakt mit arabischen Gelehrten kam. Ist die islamische Religion also wissenschaftsfreundlicher als die christliche?
Jahrhundertelang sah es so aus. Von 750 bis 1250, während ihres „goldenen Zeitalters“, waren arabische Gelehrte den westeuropäischen in Wissenschaft und Technologie weit überlegen.
•Algorismi (ca. 780 bis 835 oder 850) entwickelte das heute noch gültige arabische Zahlensystem.
•Alhazen (ca. 965 bis ca. 1040) war der erste, der im Mittelalter wieder Experimente durchführte. Unter anderem schuf er Grundlagen für die perspektivische Malerei der frühen Renaissance.
•Avicenna (980–1037) wurde – neben Hippokrates und Galen – zur dritten medizinischen Lehrautorität des späten Mittelalters.
•Averroës (1126–1198) übte als Übersetzer und Kommentator des Aristoteles sowie als Verfasser einer medizinischen Enzyklopädie großen Einfluss auf die mittelalterliche Scholastik aus.
Nur dank arabischer Übersetzungen, die ins Lateinische übertragen wurden, war Aristoteles seit dem 12. und 13. Jahrhundert westlichen christlichen Gelehrten zugänglich. Und ohne die Vorleistungen arabischer Astronomen hätte Nikolaus Kopernikus (1473–1543) wohl kaum seine kopernikanische Wende vollzogen, hin zu einem Weltbild, in dem die Erde sich um die Sonne dreht.
Diese wissenschaftlichen Leistungen der arabischen Welt waren möglich, solange im Islam die wissenschaftsfreundliche Mu’tazili-Schule tonangebend war. Mit der Zeit gewann jedoch die rigoros orthodoxe Ash’ari-Schule die Oberhand. Sie begegnete den Wissenschaften mit Misstrauen.
Im arabischen Raum wurde die Religion also strenger, während sie gleichzeitig im christlichen Westeuropa schwächer wurde. Damit hängt es zusammen, dass sich die großen naturwissenschaftlichen und technischen Umwälzungen ab dem 17. Jahrhundert im christlichen Abendland abspielten.
Merke also: Je schwächer die Religion ist, egal welche, desto besser steht es um die Wissenschaft.
Wie begann die wissenschaftliche Revolution?
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war die Kirche bereits so schwach, dass die wissenschaftliche Revolution ihren Lauf nehmen konnte: In Europa hatte Mitte des 14. Jahrhunderts die Pest gewütet. Etwa 25 Millionen Menschen hatte sie getötet, ein Drittel der damaligen Bevölkerung. In dieser dramatischen Lage hatte sich die Kirche als überfordert erwiesen. Ihre Gebete und Bußübungen hatten dem Schwarzen Tod nichts anhaben können. Deshalb begannen die Ärzte nun, sich mit den körperlichen Ursachen der Krankheit zu beschäftigen.
Das Massensterben dünnte die Hierarchien aus, auf denen sich die Macht der Kirche gegründet hatte. So konnten neue wirtschaftliche und politische Kräfte an Boden gewinnen, die Wissenschaft und Technik schätzten und förderten. Die Erfindung des Buchdrucks um 1450 eröffnete neue Möglichkeiten des Gedankenaustauschs an der kirchlichen Kontrolle vorbei.
Nun schlug in Westeuropa die Stunde der wissenschaftlichen Schriften aus der Zeit des Hellenismus. Vermittelt wurden sie unter anderem durch griechische Flüchtlinge aus Byzanz, das ab 1453 im Osmanischen Weltreich aufging. Ihre wiederentdeckten Erkenntnisse und Methoden beflügelten die westlichen Gelehrten. Unterdessen wurde 1485 bei den Osmanen der Buchdruck verboten: eine religiös motivierte Entscheidung mit fatalen Folgen für die Konkurrenzfähigkeit der islamischen Welt.
So ereignete sich in Westeuropa von 1500 bis 1700 einer der bedeutendsten Umbrüche der Menschheitsgeschichte.
Warum bekämpfte die Kirche die Freiheit der Wissenschaften?
Die Macht der Kirche war freilich noch lange nicht überwunden. Zwar war sie durch die Auszehrungen der Pestzeit sowie – seit dem frühen 16. Jahrhundert – durch die Kirchenspaltung bereits angezählt. Aber das machte sie zunächst eher noch gefährlicher. Denn noch lange versuchte die Kirche, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und ihre alles beherrschende Stellung zurückzuerlangen.
Dabei schreckten die geistlichen Autoritäten auch vor äußerster Brutalität nicht zurück – in bester Absicht, wohlgemerkt: Sie waren überzeugt, dass alle Andersgläubigen in der Verdammnis enden würden. Deshalb mussten sie verhindern, dass der Irrtum noch mehr Menschen anstecken und in die Hölle ziehen würde. So glaubten die Inquisitoren auch verantwortlich zu handeln, als sie 1633 den Astronomen Galilei unter Androhung der Folter zwangen, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu widerrufen.
Die kirchliche Ideologie rechtfertigte also die Folterung und Hinrichtung von Menschen, die sich nichts anderes hatten zuschulden kommen lassen, als wissenschaftliche Forschung zu betreiben. Brauchen wir uns da zu wundern, wenn Wissenschaftler auf Kirche und Religion nicht gut zu sprechen sind?
Galilei (1564–1642) hatte bestritten, dass die Erde der unbewegliche Mittelpunkt der Welt sei, wie die Kirche lehrte. Vielmehr drehe sich die Erde um die Sonne. Das durfte nicht sein. Denn dadurch hätte der Mensch seine zentrale Stellung im Kosmos verloren.
Dass die Idee mit der Sonne als Zentralgestirn nicht neu war, haben wir gesehen: Sie war in hellenistischer Zeit von Aristarchos vertreten worden. Die mittelalterliche Kirche hielt es jedoch mit dem Weltbild des Claudius Ptolemäus (100–160 n. Chr.), der – wie Aristoteles – die Erde als Mittelpunkt СКАЧАТЬ