Wegen Wersai. Dagmar Schifferli
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Wegen Wersai - Dagmar Schifferli страница 5

Название: Wegen Wersai

Автор: Dagmar Schifferli

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: rüffer&rub literatur

isbn: 9783906304441

isbn:

СКАЧАТЬ Mädeln und etwas wie Be-de-em.

      Schon von Weitem sehe ich Mama mit einer anderen Frau auf der Hotelterrasse unter einem gelben Elmer-Citro-Sonnenschirm sitzen. Beide vor sich ein Kännchen Kaffee und ein riesiges Stück Schwarzwäldertorte.

      »Kommt, setzt euch zu uns. Darf ich vorstellen: Frau Lindner – meine Familie – und Frau Hülsmann, eine gute Freundin der Familie.«

      Gute Freundin der Familie? Doch da steht der Kellner schon vor uns, mit Block und Stift in den Händen, um die Bestellung aufzunehmen.

      »Schnipo, wenn ich darf.«

      Mama nickt.

      »Du, Tommy?«

      »Auch Schnipo, bitte.«

      Eigentlich müsste es Stehbahn und nicht Standseilbahn heißen, überlege ich auf dem Weg zurück zur Bergstation. Obwohl man darin sitzen könnte, bleiben die Erwachsenen immer direkt am Fenster stehen, sodass ich während der ganzen Fahrt nur deren Rucksäcke sehen kann.

      WENN MAMA STIRBT, will ich auch tot sein. Als Tantelotte mit mir das Grab von Frau Zisch besuchte, sah ich auf dem Grabstein nebenan gleich zwei Namen eingemeißelt. Manchmal kommt es eben vor, dass ein Kind kurz nach seiner Mutter stirbt, hatte mir Tantelotte erklärt.

      Seit der Geröllhalde wüsste ich, wo es gefährlich ist. Es gäbe auch hohe Brücken. Oder Schneestürme. Im Winter, wenn alles zugeschneit ist und der Nebel tief hängt. Würden mich meine Fußspuren im Schnee zu früh verraten? Nach wie vielen Tagen ist man eigentlich tot, wenn man nichts mehr isst und trinkt? Wen könnte ich das fragen?

      Tantelottes Eltern sind schon ziemlich alt, über sechzig. Trotzdem immer noch putzmunter.

      »Putzmunter?«

      »Na – hart wie Kruppstahl eben.« Dazu hatte sie gelacht.

      ALLE, WIRKLICH ALLE glaubten, dass Gelsenkirchen niemals getroffen würde, hat Tantelottes Papa ihr immer wieder erzählt. Und nun erzählt sie es mir ständig. Auch jetzt. Sie seufzt und schüttelt den Kopf, weil sie sich daran erinnert, als wäre es gerade gestern gewesen. »Und das ausgerechnet an meinem Geburtstag«, sagt sie wie jedes Mal. »Britische Bomber – mitten in der Nacht, obwohl strikte Verdunkelung herrschte und sich alle daran hielten. Unser lieber Papi war zu der Zeit schon nicht mehr Direktor. Er wollte Verantwortung übernehmen und hatte sich freiwillig gemeldet. Viele Männer haben sich damals freiwillig gemeldet. Mutti und ich waren mächtig stolz auf ihn, als er sich von uns verabschiedete. Schneidig hat er ausgesehen in seiner Uniform, schwarz und schick von Kopf bis Fuß.«

      Tantelotte schweigt eine Weile, schaut an mir vorbei aus dem Fenster. Gleich wird sie sich mit einem Ruck aufrecht hinsetzen, und ich weiß schon, was kommt: »In der Nähe unseres Hauses gab es Hunderte von Frauen und Mädchen. Aus Ungarn, munkelte man.«

      »Was heißt munkelteman?«, hatte ich sie beim ersten Mal gefragt.

      »Man munkelte es eben nur, du weißt nicht, was das heißt? Wo gibt’s denn so was!«

      »Nein, sonst hätte ich ja nicht gefragt.«

      »Werd nicht frech.«

      »Ich habe doch nur gefragt.«

      »In diesem Ton?«

      »Tantelotte, bitte, was heißt munkelteman?«

      »So gehört es sich. Man munkelte, also, wie soll ich das erklären? Munkeln, munkeln …«

      Sie kratzte sich am Kopf.

      »Also, munkeln. So was wie heimlich etwas sagen, damit es nicht alle hören. Meistens mit der Hand vor dem Mund. Wir wussten ja nichts Genaues, geschweige denn, ob sie tatsächlich im Hydrierwerk arbeiteten.«

      Wieder so ein Wort, das ich nicht verstand und mich nicht zu fragen getraute.

      »In einer Art Zeltlager sollen sie gewohnt haben. Sehen konnten wir sie nie, das Gelände war eingezäunt und abgeriegelt. Wie gesagt, wir wussten die ganze Zeit über rein gar nichts. Fünfundvierzig war dann alles zerstört. Die ganze Gelsenkirchener Industrie komplett vernichtet. Armes, armes Deutschland. Da war ich gerade zwanzig.«

      Bis hierher konnte ich alles auswendig. Doch diesmal reibt sie die Hände aneinander und sagt mit ungewohnt tiefer Stimme: »Wir hatten den Krieg nicht gewollt, aber diese Demütigungen die ganze Zeit … Wegen Wersai, Wersai neunzehnneunzehn. Neununddreißig war es dann so weit. Nur damit du in der Schule nichts Falsches lernst. Bei deiner Lehrerin weiß man nie.«

      Wersai – was das nur wieder ist. Und sie soll bloß aufhören, so über Frau Simonis zu reden.

      ICH MUSS KAPIEREN, dass Tantelotte auch einmal freihaben will. Weil sie nicht arbeitet, verstand ich nicht sofort, was sie mit freihaben meinte. Inzwischen schon. Sie will sich nicht ständig um mich kümmern müssen und auch einmal einfach wegfahren.

      An diesem Wochenende ist nicht nur Tantelotte weg, auch mein Vater. Er musste gerade auf eine Geschäftsreise. Weil Mama nie über Nacht mit mir alleine in der Wohnung sein will, fahren wir zu Tante Lucille. Sie ist meine Patin und Mamas Schwester. Also, nicht wir fahren zu ihr, sondern sie holt uns ab. Ihr Auto hat einen schönen Namen: Lancia Aurelia. Vielleicht werde ich mein Kind auch einmal Aurelia nennen. Oder Binaca. Blöd nur, dass das auf jeder Zahnpastatube steht. Lancia hingegen gefällt meinem Vater, weil Ferrari von Lancia die Rennautos übernehmen konnte. Seither besitzt Ferrari die besten Boliden der Welt, triumphiert Papa.

      Er selbst fährt eben auch für sein Leben gern Auto, sagt meine Mutter. Aufs Pedal drücken und weg. Als der Sankt-Bernhard-Tunnel eröffnet wurde, wollte er unbedingt zu den Ersten gehören. Mitfahren aber durfte niemand von uns. Zu gefährlich, meinte er. Fast sechs Kilometer durch den Berg – stellt euch vor, was da alles geschehen könnte. Und wenn man am anderen Ende hinauskommt, ist man in Italien. Später erzählte er, dass am Eröffnungstag über tausendzweihundert Autos durch den Tunnel gefahren seien. Als Allererstes jedoch nicht er, sondern eine Ambulanz mit einem nierenkranken Mädchen, das dringend nach Bern in das Spital gebracht werden musste. Die verkürzte Strecke habe dem Kind bestimmt das Leben gerettet. Tantelotte hat kurz darauf Frau Kradolfer, die in der Wohnung nebenan wohnt, auch von einer Autofahrt durch einen langen Tunnel nach Italien berichtet. Ich hörte es, als ich im Treppenhaus auf Susi wartete.

      Wenn wir zu Tante Lucille fahren, darf ich immer vorne sitzen, damit Mama auf dem hinteren Sitz bei einem Unfall besser geschützt ist. Obwohl ein Auto ja auch von hinten gerammt werden könnte. Das behalte ich aber lieber für mich.

      Es käme Tante Lucille nie in den Sinn, ihre Kinder bei einer Pflegemutter aufwachsen zu lassen, sagt sie, worauf meine Mutter die Stirn runzelt. Lucilles Mann heißt Ernst und ist fast nie zu Hause. Früher hat er in einer Art Schuppen Liegestühle hergestellt, später ist daraus eine große Fabrik mit vielen Angestellten entstanden. Trotzdem wird er von meinem Vater immer nur Röhrlibieger genannt. Keinen einzigen Schweizer habe er angestellt, alles nur Italiener. So einer wie Ernst gehöre einfach nicht in unsere Familie.

      Einen Hund gibt es auch: Fips. Er sieht aus wie Struppi, Tims Hund, und gleicht den Hündchen, die Tantelotte auf die Kinderpullover stickt. Tim im Lande der Sowjets gehört zu Tantelottes Lieblingsbüchern. Weil darin endlich mal jemand sagt, wie es in der Sowjetunion zu und her geht. Nichts funktioniert dort nämlich, rein gar nichts. Sie hat das Buch auf Französisch gekauft und Tommy geschenkt. Tim heißt darin Tintin. СКАЧАТЬ