Название: Frühlingsfahrt
Автор: Johannes Hucke
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Lindemanns
isbn: 9783963080302
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Der Regen fiel gleichmäßig, nicht sehr ergiebig, doch es genügte, um die Kleidung nach und nach vollständig durchzuweichen. Für eine halbe Stunde bot das Neubauviertel die öde Silhouette für Nikolaus Henns seltsame Nachtwanderung. Kahle weiße Häuser, Autos davor, Mülltonnen, ordentlich abgestellt, fabelhaft hässliche Laternen ... Allmählich bildete sich eine Idee heraus: Er würde ins Zentrum vordringen, in die Altstadt. Am Studentenwohnheim wollte er stehenbleiben, dort, wo er einmal gewohnt hatte. In „leichteren Zeiten“, wie Annedore sich auszudrücken beliebte. Er würde hinunter zum Neckar spazieren und am Ufer sitzen bleiben. Von dort aus würde man weitersehen.
Jede Menge Lebende
Im Kelterhof zu Großvillars sah man sich in diesem Frühjahr mit einer in diesem Ausmaß und zu solcher Zeit ungewöhnlichen Problemlage konfrontiert: Es war viel zu trocken, seit Wochen schon. Nur ab und zu spritzte es einmal vom Himmel, rasch verdunstend, nicht nennenswert. Man sprach bereits vom trockensten Frühling seit Beginn der Wetteraufzeichnungen – wobei aufmerksamen Zeitgenossen auffallen musste, dass an diesen Meldungen über permanente Rekorde irgendetwas nicht stimmen konnte: der wärmste Sommer, der kälteste Winter, der windigste Herbst, der trockenste Frühling ... und alles und immer: seit Beginn der Wetteraufzeichnungen! Hat es denn früher überhaupt kein Wetter gegeben? War denn alles immer nur wohlausgewogene, nach Bedarf steuerbare, lebensfreundliche Normalität gewesen? Armin Schäufele ließ sich nicht nervös machen. Er ruhte in dem Bewusstsein, dass seine Reben tief genug wurzelten. Die meisten waren vor über dreißig Jahren gepflanzt; ein paar Wochen Trockenheit würden sie leicht überstehen. Ein zeitiger Austrieb brachte allerdings das Risiko mit sich, dass der Frost die jungen Triebe zerstört. Zudem, den Junganlagen täte baldmöglichst etwas Feuchtigkeit wohl ... Nun, man würde abwarten. Bislang war dem Winzer noch immer etwas eingefallen.
Die Weinberge Großvillars liegen zum überwiegenden Teil an geschützten Hängen. Großflächenweinbau wie in Rheinhessen oder in der Pfalz ist im gesamten Kraichgau unbekannt; man hatte es stets mit kleinen Parzellierungen zu tun. Bereits im Spätmittelalter waren die Reben aus der Ebene hinauf an die Hänge gewandert; gut beratene Fürsten hatten der Volksernährung den Vorzug gegeben: „Wo ein Pflug kann gehen, soll kein Rebstock stehen“, hatte man dekretiert. Von dieser Maßnahme profitieren die Winzer bis heute. Doch der klimatische Vorzug der steilen Lagen wirkt sich nicht nur auf den Schutz der Trauben aus: Auch die Qualität der Weine ist entsprechend hoch ... und wird von Jahr zu Jahr höher. Die Weinbauern lernen dazu; seit Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts schicken immer mehr Winzer ihre Kinder an die önologischen Hochschulen und weit, weit hinaus in die neue Weinwelt. Wenn die Sprösslinge heimkehren, bleibt meist wenig, wie es vorher war. Neue, wirksamere Methoden unterstützen den Weinbau auf einem Niveau, das man in Deutschland früher für unerreichbar gehalten hatte.
Bisweilen ähneln die neuesten Verfahrensweisen den allerältesten verblüffend. Armin Schäufele war nie Freund von Herbiziden und Chemie gewesen. Nun hatte er sich entschlossen, sein Weingut komplett auf ökologisches Wirtschaften umzustellen. Das bedeutete mehr Arbeitsstunden, mehr Aufwand, größeres Risiko – freilich. Doch in den Augen des Autodidakten, der nicht in Großvillars geboren war, gab es keine Alternative. Mit Elan bildete er sich fort, unterwies die vielen Helfer und entwickelte über die Jahre ein Produktsortiment, das mit den alten Tagen, da man schlichte Besen-Weine herstellte, immer weniger gemein hatte. – Oh ja, der Besen! So hatte man begonnen. Die Schäufeles zweifelten nie daran, dass ein Gutteil ihres Anfangserfolges auf die heimelige Atmosphäre ihres Wirtshauses zurückzuführen war, des Kelterhofes. Auch wenn die Gaststätte längst vollkonzessioniert war und zutreffendermaßen inzwischen „Weinwirtschaft“ hieß, hatte man doch verstanden, Interieur und Speisekarte in den vielen Punkten zu erhalten und nur behutsam zu bereichern und zu erneuern – ohne dabei, wie dies oft geschieht, die Stammgäste zu verschrecken.
Viele Dörfer würden sich glücklich schätzen, wenn sie eine solche omnisensuelle Wohlfühleinrichtung wie den Kelterhof ihr Eigen nennen könnten. In Großvillars wäre das natürlich nicht anders; doch ein Spezifikum besteht hierorts darin, dass man über eine unerhörte Dichte an Gasthäusern und Besen verfügt; bei einer Erhebung des höchsten Pro-Kopf-Koeffizienten käme das Dörfchen wahrscheinlich sehr weit nach vorne. Drei Besen und ebensoviele Gasthäuser bei gerade einmal knapp eintausend Einwohnern zeugen von einer beeindruckenden Hochschätzung der Freuden des Lebens – eine erstaunliche Entwicklung, bedenkt man die Vorliebe der Dorfgründer, jener grausam aus dem Alpenraum vertriebenen Waldenser, fürs Karge, fürs Asketische.
Welch ein Wunder: Das Örtchen ist unter dem Andrang der gastronomischen Vagabunden aus Bretten, Pforzheim, Karlsruhe nicht zusammengeknickt. Stets sind sie auf der Suche nach dem Wahren, Guten und Leckeren, dabei Günstigen, am besten Preiswerten, vorzugsweise aus eigener Produktion und frisch, nach Hausmannsart. Und vor allem: üppig bemessen. Im Gegensatz zu Vorzeige-Weindörfern wie Rust oder Rhodt unter Rietburg ist man in Großvillars erfreulich bodenständig und im Kerne unbehelligt geblieben; auf Fußgängerzonen mit Blumenkübeln hat man bislang weise verzichtet. Die brauchte es nicht, denn nur eine zu Hauptverkehrszeiten gelegentliche frequentierte Landstraße führte mitten durch den beschaulichen Ort, zwei Buslinien stoppen an der Kirche; wer sich bescheidet und weder zu früh noch zu spät nach Bretten oder Oberderdingen zu gelangen wünscht, findet auf diese Weise, auch ohne Besitzer eines Fahrzeugs zu sein, Anschluss an die Außenwelt.
Bereiten wir uns doch das Vergnügen und lernen die Örtlichkeit näher kennen, indem wir uns zugleich mit den wichtigsten Personen vertraut machen, die den Kelterhof bewohnen, bewirtschaften, beleben. Wir suchen sie der Reihe nach auf, wie sie an jenem Märzentag, als Nikolaus Henn, geborener Grashof, in Heidelberg seine nachmals so berühmte Fußreise startete. Beginnen wir am besten mit Edelbert Schicke, den wir bereits im ersten Kapitel bereits am Weinberghäusle antrafen. Er hat es sich verdient ... nicht allein deshalb, weil er im kommenden Herbst derart furchterregende Dinge erleben wird, sondern weil der Mann eine Zentralstelle in der Arbeit des Kelterhofs einnimmt: Er zeichnet verantwortlich für die Bewirtschaftung der Weinberge in den Lagen namens Klott, Wilfenberg und Soßberg. Letztgenanntes Rebstück klingt richtig lecker, darf aber, wie so viele berühmte Einzellagen, gar nicht mehr so heißen, da die Weinbürokratie von 1971 in hybridem Eifer die Winzer zu Vereinheitlichungen zwang. Seither gibt es im Rund nur noch die Kupferhalde, die gemeinhin mit Oberderdingen in Verbindung gebracht wird.
Am fraglichen Morgen ist Edelbert Schicke damit beschäftigt, das Erdreich zwischen den Rebstöcken zu lockern – glücklicherweise nicht von Hand, das wäre doch gar zu mühevoll, nein, dafür gibt es längst hilfreiche Vorrichtungen, die man mit etwas Geschick am Weinbergstraktor anschraubt und damit zwischen den Zeilen hindurchtuckert. Auch Schicke hat sich an die Umstellung von konventionellem auf ökologischen Weinbau gewöhnen müssen. Sein Freund Armin erklärte ihm, dass sie selbst auf höchst praktische Weise Nutzen aus dieser Reform zögen: Das Gift, das man den Trauben erspart, belastet auch den Arbeiter im Weinberg nicht.
Zwei weitere Freunde und freiwillige Helfer des Ober-Winzers Schäufele finden wir an weinbautechnisch gewissermaßen entgegengesetzter Stelle wieder: Peter und Heiner sind soeben dabei, die Abfüllung der ersten Sorten des neuen Jahrgangs vorzubereiten. Es gehört zu den zugleich unbeachtetsten wie aufwändigsten, in jedem Fall nervenaufreibendsten Tätigkeiten im Jahreslauf, wenn der vergorene Most aus Edelstahlfässern und großen Holzfässern meist unter Zeitdruck in die Flaschen gebracht werden muss. Wiewohl dafür heute ebenfalls komplizierte, anfällige Maschinen eingesetzt werden, gehört doch viel Erfahrung und Aufmerksamkeit dazu, damit der letzte Schritt vor dem Verkauf zielgenau getan wird. Naht die Zeit der Lese, finden sich wie von selber zahlreiche weitere Helferinnen und Helfer ein. Wohlgemerkt, auf dem Kelterhof kann man auf die Rekrutierung portugiesischer, polnischer oder bosnisch-mazedonischer Kräfte verzichten, weil man genug Freunde hat. Der Gegensatz zu den optimierten Verfahrensweisen anonymer Großbetriebe könnte nicht größer sein: Während auf einigen jener Weingüter während der Lese Wein im Weinberg streng verboten ist und die Pause nach Industrieminuten СКАЧАТЬ