Frühlingsfahrt. Johannes Hucke
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Название: Frühlingsfahrt

Автор: Johannes Hucke

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Lindemanns

isbn: 9783963080302

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СКАЧАТЬ Mitte prangte Annedores altes Sofa, Relikt leichterer Zeiten, wie sie sich auszudrücken beliebte, da sie noch häufig triebfreudigen Herrenbesuch empfing. Die gakelige, fleckige Liegestatt hatte sie fein säuberlich mit Spannbettbezug verdeckt – immerhin. Bis auf wenige Ausnahmen verbrachte Nikolaus die Nächte der nächsten dreizehn Jahre dort. Seine Nackenschmerzen nahmen zu, aber auch das war auszuhalten.

      Das lichtlose Lämpchen in der Hand, näherte sich Nikolaus seinem Verlies. Ein weiteres Ritual Annedores bestand darin, dass sie ihm nach und nach all das, was sie einst miteinander verbunden hatte, sämtliche Geschenke, alle gemeinsam angeschafften Haushaltsdinge, jedwedes Ding, das sie auf welche Weise auch immer an den ohne Angabe von Gründen Verstoßenen erinnern mochte, auf die Treppe stellte: grundsätzlich auf die zweite Stufe von oben, Stück für Stück Demütigungen, Kennzeichen einer mitleidlosen, irreversiblen Austreibung.

      Im Souterrainzimmerchen angekommen, drehte sich Nikolaus ein paarmal im Kreis. Er wusste durchaus nicht mehr, was er hier unten beginnen sollte. Der Schock, wiewohl vorbereitet durch vierzehn Jahre, wirkte sich aus; Nikolaus ruderte mit den Armen, ohne Halt zu finden. Dann schnürte er durch den dunklen Gang auf sein Privatklo, setzte sich und vergaß seine Notdurft zu entrichten. Er zog ab, schlich wieder zurück ins Zimmerchen, nahm die Jacke vom Stuhl und den Schlüssel vom Tisch. Als er sein Handy liegen sah, kam ihm der Gedanke, es gegen die Wand zu werfen. Doch er fürchtete Annedores Gezänk und den Schreck, den Nikolaus davontragen könnte. Also ließ er’s liegen und verriegelte die Tür mittels einer Spezialvorrichtung, die er einst selbst gebastelt hatte.

      Der Weg nach oben, zur Haustür, war nur von dem einzigen Gedanken bestimmt: Niemand möge ihn jetzt ansprechen, auf keinen Fall Annedore, aber auch Valentin nicht, dessen Ignoranz ihm den größten Schmerz bereitet hatte. Vorsichtig, wie ein Tierpräparator ein totes Vögelchen, berührte er den Knauf der Haustür. Es klickte. Zu laut.

      Bevor Nikolaus in die Nacht hinaustrat, hörte er es von drinnen gellen: „Haust du jetzt ab oder was?“

      Nikolaus behielt den Schlüssel in der Hand, schlenkerte ihn unbewusst wie ein Spielzeug. In der anderen Hand trug er die Jacke. Es war die laueste Nacht seit dem letzten September, zeitige Wärme war schon vor Tagen den Rheingraben hinaufgeweht, hielt sich an den Hängen der Bergstraße fest. Langsam ging er geradeaus, unbekümmert um Ziel und Richtung. Wohl kam ihm der Gedanke, das Auto zu nehmen und loszufahren; Nikolaus redete sich ein, er verzichte darauf aus Verantwortung – denn wer weiß, vielleicht würde er absichtlich und mit Wucht auf irgendeinen Brückenpfosten zusteuern ... Dabei war ihm klar, dass er sich einzig und allein für den Spaziergang entschieden hatte, weil Annedore das Auto morgen früh benötigte. Und wo war er morgen früh? Er, Nikolaus Henn, der Dödel?

      Ja, wo sollte er überhaupt jetzt hin? Er, der „Hannebambel“, wie ihn Oschi zutreffend beschrieben hatte, der außer Valentin keinen Menschen mehr kannte, der ihn mochte? Und auch dies schien seit heute Abend fraglich. – Es trieb Nikolaus zu dem Spielplatz, den er vor einem Jahrzehnt mehrmals täglich aufgesucht hatte, als sorgeberechtigte Begleitung des Kleinen: jeweils mit präziser Zeitangabe versehen, wie lange er sich hier aufzuhalten und wann er heimzukehren habe. Annedore brauchte eben Ruhe.

      Unter einer Linde, die noch kahl war, ließ sich Nikolaus auf die wohlbekannte Bank nieder. Er betrachtete die Spielgeräte im Laternenlicht. Einerseits war es damals unendlich langweilig gewesen, Stunden über Stunden hier zu verbringen, in der selten anregenden Gesellschaft akribischer Mütter, die ihn mehr duldeten als schätzten. Zum andern hatte er seinerzeit eine Aufgabe, war gewissermaßen sozial akzeptiert im Kontakt zu diesem Kind, dessen Existenz ihn hinwiederum an eine Frau band, die ihn zu verabscheuen schien, warum auch immer. Nikolaus streckte die Beine aus, lehnte den Kopf nach hinten. Weiche Regenspritzer trafen ihn im Gesicht. Ah, Frühlingsregen, dachte er, ohne etwas dabei zu empfinden. Eine Melodie ging ihm durch den Kopf, eine lange nicht mehr gehörte. Er kam nicht drauf.

      Früher, das wusste er, hatte er das Lied oft gesungen. Seit langem beschränkte er sich darauf, seine einst vorzüglich ausgebildete Stimme im Kirchenchor hören zu lassen. Bei den Aufführungen sang er so leise wie möglich, um nicht aufzufallen. Dieser Kirchenchor ... Nikolaus litt unter den quietschenden, verheulten Einsätzen zumal der älteren Soprane, durfte sich jedoch durchaus nicht beschweren: denn einer, der beinahe einmal die Laufbahn zum professionellen Sänger eingeschlagen hätte, ist in einem Vorstadtkirchenchor selbstverständlich fehl am Platz. Wie war er dort nur hineingeraten? Richtig, Annedore hatte gemeint, es könne nicht schaden, wenn man in der Gemeinde ein wenig Präsenz zeige ... zumal der liebe Valentin dort getauft worden war und die Kommunion erhalten hatte.

      Durch ein Kichern wurde Nikolaus aus seinen Gedanken aufgescheucht. Es war ihm sogleich unangenehm, dass man ihn spätabends auf einem Kinderspielplatz alleine antraf. Wieder einmal gab er keine gute Figur ab – das fanden auch die fünf Jugendlichen, vier Burschen und ein Mädchen, die sich ihm gegenüber auf der anderen Bank niedergelassen hatten. Ein wenig blöde schaute er hinüber, sein Gesicht war nassgeregnet. Am lautesten lachte das Mädchen.

      „Voll das Opfer“, tuschelte es ihren Begleitern zu. Einer von diesen, er trug eine kurze Jeansweste und war an den Oberarmen tätowiert, spielte den Fürsorglichen.

      Indem er treuherzig mit dem Kopf wippte, beugte er sich vor und lehnte die Unterarme auf die Oberschenkel. „Ey, wenn wir dir irgendwie helfen können ...?“

      Für seine Freunde war das zu viel. Kreischend vor lachen, klatschten sie einander ab, wischten sich Tränen aus den Augen. Das Mädchen schlug vor Übermut auf den Überfreundlichen ein und nannte ihn „Sozialheimer“. Auch dieser musste nun über seinen Witz lachen – zu Nikolaus’ Erstaunen, denn er hatte das Angebot ernst genommen.

      Bis zur Halbglatze von Schauern der Scham überzogen, stand Nikolaus geschwinde auf. Um den Spielplatz zu verlassen, musste er direkt an dieser Bank voller Schadenfreude vorbei. Er überlegte, ob er lieber den rückwärtigen Zaun überklettern solle. Nein, das wäre nun doch übertrieben. Was kümmerten ihn ein paar harmlose Halbwüchsige? Er hatte anderen Kummer. In der Mitte des Spielplatzes befand sich ein Sandkasten; das hätte Nikolaus eigentlich wissen müssen – doch im Dunkeln stolperte er hinein, strauchelte und schlingerte auf das Türchen zu. Diese neuerliche Einlage gefiel seinem Publikum über die Maßen. Einer der Jungs röchelte am Boden und flehte, der Fremde solle doch bitte, bitte aufhören mit seiner Show. Es sei zu großartig. Während Nikolaus das Türchen durchschritt, vernahm er abermals das Wort „Opfer“. Diese darwinistische, hundserbärmlich gemeine Jugendsprache hatte ihn schon immer angewidert; doch in seinem Innern musste er den Nachtschwärmern recht geben.

      Kaum hatte er sich ein paar Schritte entfernt, fiel ihm ein, dass der Schlüssel noch auf der Bank lag. Seine Rückkehr wurde mit großem Hallo begrüßt.

      „Haben Sie es sich anders überlegt?“, machte sich der Chef-Zyniker zum Vergnügen seiner Beisitzer erneut über Nikolaus lustig.

      „Der hat wahrscheinlich Sehnsucht nach uns“, stöhnte das Mädchen.

      „Ja klar, nach dir!“, vermutete ein Rothaariger mit Bürstenschnitt. Und ergänzte: „Ey, wollen Sie die haben? Fünfzig Euro! Nee, hundert!“

      Während das Mädchen wieder einmal wild drauflosprügelte, diesmal den Rothaarigen, sah sich Nikolaus genötigt, auch an dieser Stelle seine Demütigung komplett zu machen. So, als hätte er mit den Fünfen einen fröhlichen Abend verlebt, gab er überflüssiger Weise den Grund für sein abermaliges Auftauchen an: „Schlüssel vergessen.“

      Dabei kam auch ihm seine Stimme so dünn und knabenhaft vor, dass er sich über den erneuten Lachsturm auf der Bank keineswegs wunderte.

      Noch lange hörte er die Jugendlichen hinter sich gackern und jubeln. Wie konnte er sich nur so verhöhnen lassen? Den Einfall, ein weiteres Mal zurückzukehren, СКАЧАТЬ