Название: Totkehlchen
Автор: Thomas Matiszik
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Kommissar Modrich
isbn: 9783942672719
isbn:
In diesem Augenblick brannten bei Johannes Baldauf alle Sicherungen durch. Das wilde Kriegsgeschrei, das er anstimmte, ließ die umstehenden Besucher des CSD wie auf Kommando herumfahren. Sie sahen einen völlig entfesselten Mann, der erst einen Mülleimer aus seiner Verankerung riss, um dann mit demselben auf den Transvestiten und seinen bedauernswerten Sohn einzuschlagen. Körperlich eigentlich hoffnungslos unterlegen, war es die unbändige Wut, die Johannes Baldauf an diesem Tag um ein Haar zu einem Mörder werden ließ. Zwei der unzähligen Schläge hatten den Transvestiten schwer am Kopf getroffen, sodass dieser erst taumelte und dann zu Boden sank. Frank Baldauf lag blutüberströmt auf dem Bürgersteig und hielt schützend die Hände vor sein Gesicht. Wären dem Transvestiten nicht zwei couragierte CSD-Besucher zur Hilfe geeilt, wer weiß, was noch alles geschehen wäre. Mit vereinten Kräften wurde Johannes Baldauf niedergerungen und so lange festgehalten, bis die Polizei vor Ort war und ihn in Gewahrsam nehmen konnte.
Tatsächlich musste man Baldauf bereits zwei Stunden später wieder laufen lassen, weil der Transvestit im allgemeinen Chaos verschwunden war und sein Sohn vor lauter Angst keine Aussage machen wollte. Die Zeugen, die Baldauf schlussendlich überwältigt hatten, sagten lediglich aus, dass der Transvestit und Baldauf offenbar in eine Schlägerei verwickelt waren und sich die Verletzungen vermutlich daraus ergeben hätten. Baldauf selbst hatte auf Notwehr abgestellt und zudem betont, dass er seinen Sohn in Gefahr sah. Zu Hause angekommen, nahm Baldauf sich Frank noch mal vor.
„Um deinen Vater zu verteidigen, machst du dein Maul wohl nicht auf? Aber wehe, es kommt so eine Tucke daher und will dir ihre Zunge bis zum Anschlag in den Hals stecken! Das scheint genau dein Ding zu sein, richtig? Ich weiß nicht, was bei dir schiefgelaufen ist, aber ich komme mehr und mehr zu dem Entschluss, dass es damals eine Fehlentscheidung war, dich nicht abzutreiben. Hätte ich mich mal durchgesetzt.“
Frank Baldauf schnappte nach Luft und sah seinen Vater ungläubig an.
„Ja, du hast schon richtig gehört. Du warst ein Unfall. Eigentlich hättest du von einer Gummiwand abprallen und dann im Müll landen sollen. Das Scheißding ist aber geplatzt und wir hatten den Salat. Na ja, kein Wunder, dass du dich nun in eine solche Richtung entwickelt hast.“ Baldauf zog seine Spucke hoch und spie Frank vor die Füße. „Von heute an bist du nicht länger mein Sohn. Geh deinen Weg, lass dich meinetwegen von jedem Dahergelaufenen begrapschen. Ist mir ab sofort wurscht. Was deine Mutter daraus macht, geht mir ebenfalls am Arsch vorbei.“
Martina Baldauf arbeitete seit knapp sechs Monaten in einem Berliner Kinderkrankenhaus. So gelang es ihr wenigstens während der Schichten, dem täglichen Wahnsinn, der sich zu Hause abspielte, zu entfliehen. Sie hasste ihren Mann. Mit jedem Tag wurde es schlimmer. Viel länger würde sie es mit ihm nicht aushalten. Frank war nun alt genug und konnte auf eigenen Beinen stehen. Zur Not würde sie eine Zeit lang mit ihrem Sohn zusammenleben. Irgendwo weit weg von diesem Scheusal. Warum wurden solche Menschen niemals zur Rechenschaft gezogen?
Als Alexej Sobukov Monate später die Wohnungsklingel der Familie Baldauf betätigte, hatte Martina Baldauf Frühschicht.
9
Freds Albtraum riss Guddi aus ihren Träumen. Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte sie nicht mehr so tief und fest schlafen können. Die Ärzte hatten ihr gestern noch mal Mut gemacht, ihr den Eingriff sehr präzise erklärt. Es konnte eigentlich nichts schiefgehen. Im Vergleich zu den beiden ersten OPs, bei denen die Ärzte gebetsmühlenartig auf das hohe Risiko hingewiesen hatten, schien es jetzt fast so, als wollte das gesamte Ärzteteam jegliches Restrisiko allein durch positive Gedanken von vornherein ausschließen. ‚Vielleicht hilft das ja tatsächlich‘, dachte Guddi, als sie sich ins Bett legte und nach kurzer Zeit eingeschlafen war, obwohl Fred sie noch länger mit Fragen zu seinem Zwillingsbruder löcherte. Fred hatte, im Unterschied zu Leo, keine körperlichen Schäden davongetragen. Allerdings war er seit den schrecklichen Stunden in der Gewalt der Entführer trotzdem ein anderer Mensch geworden und benötigte die Hilfe eines Psychotherapeuten. Er kam weder mit der Tatsache klar, dass sein Bruder plötzlich nicht mehr mit ihm herumtollen konnte, noch schaffte er es, die schrecklichen Bilder jener Stunden in der Lagerhalle aus dem Kopf zu bekommen. Den Moment, als sich der letzte Schuss löste und seinen Bruder traf. Die Sekunden, als das Leben aus Leo wich. Die panischen Schreie seines Vaters, der mit ansehen musste, wie ein völlig entfesselter Kurt Heppner seinen Sohn zum Krüppel machte.
Aber auch Fred hatte mitbekommen, dass die Ärzte, die sich um Leo kümmerten, diesmal sehr viel optimistischer waren als bei den vorangegangenen Operationen. Er wünschte sich nichts mehr, als endlich wieder mit Leo im Garten Fußball zu spielen oder mit dem Mountainbike loszuradeln, bis ihnen die Zunge vor Durst und Erschöpfung fast bis zum Boden hing. Aber natürlich musste er auch jedes Mal, wenn er seinen Bruder im Krankenhaus besuchte – und das war beinahe täglich – der Realität ins Auge blicken. Und diese war leider grausam. Leo Faltermeyer lag in einem Spezialbett und konnte an einem guten Tag lediglich seinen Kopf und die Finger seiner rechten Hand bewegen. Dieser Anblick machte Fred jedes Mal fertig. Sobald sie das Krankenhaus verlassen hatten, weinte er hemmungslos in den Armen seiner Mutter und wollte für den Rest des Tages von allen nur noch in Ruhe gelassen werden.
‚Morgen wird alles gut‘, hatte er sich vor dem Zubettgehen geschworen.
Jetzt saß er, schweißgebadet und mit weit aufgerissenen Augen, neben seiner Mutter im Bett und gab einen lang gezogenen, pfeifenden Ton von sich. Guddi fasste Freds Arm. Dabei merkte sie, dass ihr Sohn offenbar noch immer schlief. Er nahm sie jedenfalls nicht wahr, sondern starrte vor sich hin und ließ den pfeifenden Ton zu einem dunklen Stöhnen anschwellen. Jetzt nahm Guddi Fred in die Arme und flüsterte ihm beruhigende Worte ins Ohr. Es war nichts mit Zusammenhang, ihr fiel aufgrund der eigenen, bleiernen Müdigkeit nichts wirklich Sinnvolles ein.
„Mami“, begann Fred schließlich leise, „ich habe geträumt, dass Leo wieder laufen kann!“ Guddi musste sich zusammenreißen. Sie hatte mit solch einer Reaktion ihres Sohnes rechnen müssen. Das alles war, wie der Therapeut mehrfach betont hatte, ein entscheidender Schritt zur Verarbeitung seiner außergewöhnlichen persönlichen Situation. Jetzt aber zog es ihr doch den Boden unter den Füßen weg. Sie kämpfte mit den Tränen, wollte für Fred aber Stärke zeigen. Ob das so richtig war, wusste sie nicht. Sie tat es eher intuitiv.
„Das ist doch toll, Fred. Und ich bin mir sicher, dass, wenn wir beide ganz fest daran glauben, dein Traum auch in Erfüllung geht!“
Fred schluchzte nun laut und bekam den folgenden Satz nur schwer über die Lippen.
„Es waren Maschinenbeine, Mama. Leo hatte Maschinenbeine!“
Guddi wollte losschreien, wusste aber, dass nichts anderes die Situation besser beruhigen würde als eine zärtliche Umarmung. Sie hielt Fred ganz fest und wiegte ihn hin und her, so lange, bis er sich tatsächlich beruhigt hatte und wieder eingeschlafen war. Maschinenbeine. Mit diesem Bild im Kopf war es ihr unmöglich, noch einmal Schlaf zu finden. Gudrun Faltermeyer war eine überaus starke Frau, die nun allerdings vor ihrer bislang härtesten Prüfung stand.
10
Dass die Tiere im Dortmunder Zoo an diesem Morgen unruhiger waren als sonst, hatte weniger mit den zahlreichen seltsamen Gestalten in Uniformen und weißen Ganzkörperoveralls zu tun, sondern vielmehr mit der Tatsache, dass der Zoo seit dem Fund der Leiche Daniel Lehmeiers gesperrt worden war und die Tierpfleger ihren Schützlingen kein Futter bringen konnten.
СКАЧАТЬ