Ich bekam die Tagesschau mit, obwohl ich sie noch gar nicht sehen durfte.
Es waren keine Nachrichten und Bilder für Kinder, da hatten unsere Eltern sicherlich Recht, aber war das gezeigte und berichtete entsetzliche Leiden denn kindgerecht?
Und überhaupt: was ist das für eine eigenartige Welt, in der uns die Kriege und Hungersnöte per Fernsehen ins Haus geliefert werden, während wir betroffen auf dem Sofa oder im Sessel sitzen und Snacks knabbern …
Vollkommen unvorbereitet traf mich im Alter von acht oder neun Jahren -ich ging noch zur Volksschule-, auf einem Ausflug mit meinen Eltern, der Besuch und die Besichtigung der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Danach konnte ich wegen dieser entsetzlichen Bilder und Eindrücke mehrere Nächte, im festen Griff der Albträume, die ja eigentlich eher eine Verarbeitung der Realität waren, nicht schlafen. Ich kannte bislang nur die für einen Jungen meines Alters spannenden Geschichten vom Krieg, die die alten Leute eigentlich ständig erzählten. Diese Bilder aber, und das alles, was in Bergen-Belsen gezeigt wurde und zu sehen war, waren neu für mich, ganz entsetzlich neu. Es ist so furchtbar, wozu Menschen in der Lage sind. Seit diesem ersten Besuch in Bergen-Belsen hasste und verachte ich Nazis und ihre dumpfe, menschen-, kultur-, lebensverachtende Philosophie aus tiefstem Herzen. Ich fing an, dieses unglaublich düstere, albtraumhaft sich jeder humanen Vorstellung entziehende Kapitel der deutschen Geschichte zu erkennen. Das jedoch auch nur ansatzweise zu verstehen und zu begreifen, ist bis heute unmöglich.
Die damalige rassistische Politik in den USA hatte ihre Höhepunkte in den Attentaten an Martin Luther King und auch an Robert Kennedy gefunden. Robert Kennedy hatte als Justizsenator unter John F.Kennedy, entgegen der massiven Proteste der rassistischen Südstaatler, die gleichen Bildungsrechte für Schwarze, Farbige und Weiße durchgesetzt. Die ersten schwarzen Studenten betraten unter massiven Polizeischutz die Universität, diese Bilder sah ich damals im Fernsehen und ich konnte und kann den blanken Hass der weißen Bevölkerung einfach nicht verstehen. Ich erinnere mich aber auch an weitere, spätere Bilder. Ich erinnere mich an die Bilder im Schwarz-Weiß -Fernseher bei einem Schulkameraden der Volksschule: Robert Kennedy liegt leblos auf dem Rücken auf dem Boden einer Bühne. Eine Hand stützt seinen blutigen, durchschossenen Hinterkopf. Die Fernsehbilder waren grobkörnig, wie fast alle Nachrichtenbilder, die einem im Schwarz-Weiß-Fernseher gezeigt wurden … stark wackelnd, oft hektisch flatternd, aber grobkörnig und dadurch immer irgendwie unwirklich distanziert erscheinend, grausame, aber unwirkliche Bilder … Robert Kennedy, den blutverschmierten Kopf von Händen ohne Gesichtern gestützt, sterbend auf dem Boden liegend, … dieses Bild erinnert mich auch an den ersten, von mir erlebten, wirklich schweren Verkehrsunfall mit Blut und so.
Ein paar Häuser von unserem Haus entfernt wurde Anfang/Mitte der Sechziger gegen Abend, es war dunkel und die Straßenlaternen brannten, ein älterer, vielleicht auch alter Mann an einer Straßeneinmündung auf dem Fahrrad von einem Auto erfasst. Der Mann lag blutend und sichtlich schwer verletzt, inmitten vieler kleiner Glassplitter der geborstenen Auto-Windschutzscheibe, seitlich und verkrümmt auf der Straße. Sein Fahrrad lag verbogen neben ihm. Die unzähligen, im Laternenlicht auf der Straße flimmernden Glassplitter hatten sich mit dem Blut zu einer klebrig erscheinenden Glitzermasse vermischt. Viele Anwohner und Passanten standen am Straßenrand und schauten zu. Die ganze Szenerie wirkte auf mich kleinen Jungen gespenstisch und sehr faszinierend zugleich. Motorengeräusche, Blinklichter, Blut, Scherben, das verbogene Fahrrad, das schräg auf der Straße stehende, beschädigte Auto und der regungslos auf dem Boden liegende, röchelnde Mann mit dem kurzärmligen, gemusterten Hemd und den braunen Cordhosen, um den sich irgendwie niemand zu kümmern schien …
Die Leute standen einfach nur sprachlos gaffend da und trotz der ganzen Geräusche war alles seltsam ruhig.
Irgendjemand versuchte noch, mir von hinten die Augen zuzuhalten, aber es war zu spät, ich hatte alles mit meinen Augen gesehen und sollte dieses Bild nie wieder vergessen. Ich weiß bis heute nicht, ob der Mann den Unfall überlebt hat. Ich habe damals aber gespürt und mit meinem kindlichen Geist erfahren und erleben müssen, dass das Nahen des Todes oder seine Gegenwart eine verdammt einsame Sache ist.
Dieses Erlebnis liegt nun schon über fünfzig Jahre zurück – ein über ein halbes Jahrhundert mich begleitendes, unerzähltes Bild …
Meine Tochter wusste nichts von jenem schon so lange zurückliegenden, tragischen Erlebnis, als ich mit ihr in Begleitung ihrer besten Freundin, der schönen holländischen Stadt Groningen einen Besuch abstatte.
Eigentlich heißt es ja korrekterweise »niederländisch«, aber früher nannten wir die Niederlande immer Holland, auch wenn es nicht richtig ist. Ich finde aber, dass »Holland« viel schöner und auch liebevoller klingt als »Niederlande« und irgendwie passt »Holland« meiner Meinung nach auch besser zu unserem kleinen, bunten Nachbarland.
Die Mädchen shoppen und durchforsten fröhlich plappernd die Geschäfte der Groninger Innenstadt und die Verkaufsstände auf dem »grooten Markt«.
Am Rand stehen dort große, treppenartige Sitztribünen. Wir setzen uns auf einer der Stufen hin, essen etwas und beobachten das Treiben um uns herum. Irgendetwas erscheint mir jedoch eigenartig und dann ist es auch schon soweit: zielsicher schweben drei beseelte und selig lächelnde, ja geradezu aufdringlich beseelt lächelnde junge Menschen auf mich zu und begrüßen mich auf Englisch:
»Hi, there is something special in your appearance and we would like to talk with you about God …«
»God? – Oh no! I don't wanna talk about God with you guys! Leave me alone!« (Übersetzung: »Hi, da ist etwas Besonderes in deiner Erscheinung und wir würden gerne mit dir über Gott reden …« – »Gott? – oh nein! Ich will mit Euch nicht über Gott reden! Lasst mich in Ruhe!«)
Die Mädchen lachen sich kaputt beim Erleben dieser Situation.
Diese Gottesanbeter hatten mich aber auch wirklich gezielt unter den ganzen anderen Menschen herausgepickt. Ich hatte mein ganzes Leben schon so viel über und von Gott gesprochen, sprechen und hören müssen, das muss dann noch für 'ne ganze Weile reichen. Ich möchte mich dann doch lieber, uneingeschränkt und liebevoll dem höchst Irdischen, teuflischen Blues hingeben, ohne Engelsgeflöte und Glaubensbekenntnisse aus erleuchteten Gesichtern.
Die Gesichtszüge der drei Wander-Prediger entgleisten, aber sie verstanden sofort und vor allen Dingen widerspruchslos und ließen mich augenblicklich in Ruhe, meine irdische Botschaft war – Gott sei Dank! – unmissverständlich ausgefallen.
Die Mädchen beschließen, ihre Shoppingtour fortzusetzen und ich schlendere alleine weiter über den »grooten Markt«.
Von irgendwoher ertönt vom Wind getragene Musik und ich gehe auf die Suche nach der Quelle.
An einer kleinen Verkehrsinsel am Rande des Marktplatzes werde ich fündig.
Ich bleibe eine ganze Weile bei »Moti«, dem Straßenmusiker stehen und höre seinen Song-Interpretationen zu Hank Williams, Bob Dylan, den Eagles, den Beatles und Rod Stewart zu. Moti spielte eine 12-saitige Westerngitarre, die er mittels autobatteriebetriebenen Verstärker elektrisch verstärkt. Moti sitzt auf einem Hocker, mit dem rechten Fuß bedient er eine kleine, offene Bassdrum, mit dem linken Fuß eine HiHat. In einer Hals-Halterung für Mundharmonikas klemmen ein Mikrofon und ein Doppel-Kazou, auf dem er manchmal Solo-Melodien trötet.
Moti hat eine lange, graugelockte Haarmähne, unter der ab und zu ein Ohrring hervorschimmert, СКАЧАТЬ