Название: In der Sommerfrische
Автор: Anton Tschechow
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Klassiker der Weltliteratur
isbn: 9783843804660
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Serjoscha gab das Zeichnen auf, rückte noch einmal hin und her, fand eine bequeme Pose und widmete sich dem Barte seines Vaters, zuerst glättete er ihn sorgfältig, dann zerteilte er ihn und versuchte aus ihm einen Backenbart zu machen.
»Jetzt siehst du dem Iwan Stepanowitsch ähnlich«, murmelte er: »und gleich wirst du unserm Portier ähnlich sehen. Papa, warum stehen die Portiers vor den Türen? Um die Diebe nicht hereinzulassen?«
Der Staatsanwalt fühlte auf seinem Gesicht Serjoschas Atem, er berührte mit der Wange jeden Augenblick seine Haare, und es war ihm dabei so warm und weich ums Herz, als ruhte nicht nur seine Hand, sondern auch seine Seele auf Serjoschas Samtbluse. Er sah ihm in die großen dunklen Augen, und es war ihm, als blickten ihn aus diesen Augen auch seine Mutter und seine Frau an und alle, die er je geliebt hatte.
– Nun geh hin und schlage ihn … – dachte er sich. – Denk’ dir für ihn eine Strafe aus! Nein, was bin ich für ein Erzieher! Früher waren die Menschen einfacher, sie grübelten weniger und lösten darum solche Fragen tapfer. Wir aber grübeln zu viel, die Logik hat uns vergiftet … Je intelligenter ein Mensch ist, je mehr er grübelt und ins Detail geht, um so unentschlossener und befangener ist er und umso ängstlicher macht er sich an die Sache. Und in der Tat, wenn man es so bedenkt, wie viel Mut und Selbstvertrauen muss man haben, um es zu unternehmen, einen Menschen zu belehren und zu richten oder ein dickes Buch zu schreiben … –
Es schlug zehn.
»Nun, Kind, es ist Zeit für dich«, sagte der Staatsanwalt. »Sag’ gute Nacht und geh’ zu Bett.«
»Nein, Papa«, erwiderte Serjoscha mit einer Grimasse, »ich bleib’ noch ein wenig bei dir. Erzähl’ mir etwas! Erzähl’ mir ein Märchen.«
»Gut, aber gleich nach dem Märchen gehst du zu Bett.«
Jewgenij Petrowitsch pflegte Serjoscha an seinen freien Abenden Märchen zu erzählen. Wie die meisten vielbeschäftigten Menschen, hatte er kein einziges Gedicht im Kopf und kannte kein einziges Märchen, so dass er immer improvisieren musste. Gewöhnlich fing er ganz nach der Schablone an: »In einem gewissen Königreiche …« Und weiter häufte er allerlei harmlosen Unsinn an und wusste zu Beginn der Geschichte nie, wie die Mitte und der Schluss ausfallen würden. Er nahm die Bilder, Personen und Situationen aufs Geratewohl, und die Handlung und die Moral ergaben sich irgendwie ganz von selbst, ganz ohne Zutun des Erzählers. Serjoscha liebte solche Improvisationen, und der Staatsanwalt merkte, dass je anspruchsloser und einfacher die Handlung war, sie auf den Jungen einen umso stärkeren Eindruck machte.
»Also hör’ zu«, begann er, die Augen zur Decke hebend. »In einem gewissen Königreiche lebte einmal ein alter, uralter König mit einem langen grauen Bart und … einem so langen Schnurrbart. Er lebte also in einem gläsernen Schlosse, das in der Sonne wie ein großes Stück Eis glänzte und funkelte. Das Schloss aber, mein Lieber, stand in einem riesengroßen Garten, und im Garten wuchsen, weißt du, Apfelsinen, Bergamottbirnen … Kirschen … blühten Tulpen, Rosen, Maiglöckchen und sangen bunte Vögel … Ja … An den Bäumen hingen gläserne Glöckchen, die im Winde so wunderbar tönten, dass es eine Wonne war, zuzuhören … Glas klingt nämlich viel sanfter und zarter als Metall … Nun, und was gab’s da noch? Im Garten sprangen Fontänen … Weißt du noch? du hast auf dem Lande bei Tante Sonja eine Fontäne gesehen? Also solche Fontänen sprangen im Garten des Königs, aber sie waren noch viel größer, und die Wasserstrahlen reichten bis zu den Wipfeln der höchsten Pappeln hinauf.«
Jewgenij Petrowitsch dachte eine Weile nach und fuhr fort:
»Der alte König hatte einen einzigen Sohn und Thronerben, einen ebenso kleinen Jungen wie du. Er war niemals unartig, ging immer früh zu Bett, rührte nichts auf dem Tische an und … und war überhaupt ein kluger Junge. Er hatte aber einen Fehler: – er rauchte …«
Serjoscha hörte gespannt zu und blickte dem Vater, ohne zu zwinkern, in die Augen. Der Staatsanwalt fuhr fort und fragte sich: – Was weiter? – Er zog die Geschichte sehr in die Länge, trat alles breit und endete so:
»Der Prinz wurde vom Rauchen schwindsüchtig und starb, als er erst zwanzig Jahre alt war. Der kranke, alte Vater blieb ohne jede Hilfe. Es war niemand da, um das Königreich zu regieren und das Schloss zu verteidigen. Da kamen die Feinde, töteten den Alten, zerstörten das Schloss, und jetzt gibt es im Garten weder die Kirschbäume, noch die Vögel, noch die Glasglocken. Ja, so ist’s, mein Lieber …«
Dieser Schluss kam Jewgenij Petrowitsch selbst lächerlich und naiv vor, aber auf Serjoscha machte das Märchen einen starken Eindruck. Seine Augen waren wieder von Trauer und etwas wie Entsetzen verschleiert; er blickte eine Weile auf das dunkle Fenster, fuhr dann zusammen und sagte mit verzagter Stimme:
»Ich werde nicht mehr rauchen …«
Als er sich verabschiedet hatte und gegangen war, ging sein Vater langsam auf und ab und lächelte.
– Man wird sagen, dass es die schöne künstlerische Form war, was auf ihn diesen Eindruck machte, – dachte er sich: – meinetwegen, aber das ist kein Trost. Das ist trotz allem nicht das richtige Mittel … Warum müssen die Wahrheit und die Moral nicht in ihrer rohen Form, sondern unbedingt mit Beimischungen, wie die Pillen verzuckert und vergoldet, dargereicht werden? Das ist nicht normal … Fälschung, Betrug … Kunststücke … –
Er dachte an die Geschworenen, denen man unbedingt eine »Rede« halten muss, an das große Publikum, das die Weltgeschichte nur aus Heldengesängen und historischen Romanen kennt, und an sich selbst, der er seine ganze Lebensauffassung nicht aus Predigten und Gesetzen, sondern aus Fabeln, Romanen und Gedichten geschöpft hatte …
– Die Arznei muss süß sein, und die Wahrheit schön … Und das hat sich der Mensch seit Adams Zeiten eingeredet … Übrigens … vielleicht ist das auch natürlich und muss so sein … Gibt es denn in der Natur wenig zweckmäßige Täuschungen und Illusionen?
Er machte sich an die Arbeit, aber die trägen, häuslichen Gedanken regten sich noch lange in seinem Kopfe. Die Tonleitern im zweiten Stock waren nicht mehr zu hören, doch der Bewohner des ersten Stocks ging noch immer auf und ab …
Die Jungens
»Wolodja ist gekommen!«, rief jemand auf dem Hofe. »Woloditschka ist gekommen!«, schrie Natalja, ins Esszimmer hereinlaufend.
Die ganze Familie Koroljow, die ihren Wolodja von Stunde zu Stunde erwartete, stürzte zu den Fenstern. Vor der Haustür hielt ein breiter Schlitten, und vom weißen Dreigespann stieg dichter Nebel auf. Der Schlitten war leer, weil Wolodja schon im Flur stand und mit seinen roten, erfrorenen Fingern den Baschlyk aufband. Sein Gymnasiastenmantel, die Mütze, die Galoschen und die Haare auf seinen Schläfen waren mit Reif bedeckt, und er selbst duftete vom Kopf bis zu den Füßen so appetitlich nach Kälte, dass man, wenn man ihn ansah, den Wunsch hatte, einmal durchzufrieren und »brr!« zu rufen. Die Mutter und die Tante fielen über ihn her und fingen an, ihn zu küssen. Natalja kniete vor ihm nieder und zog ihm die Filzstiefel von den Füßen, die Schwestern kreischten, СКАЧАТЬ