Название: Lebendig!
Автор: Michael Herbst
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783775158800
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Dann erst kann zum Schluss auch wirklich davon geredet werden, dass Zuversicht und Liebe gedeihen. Sie gedeihen nicht, indem wir an unseren Gefühlen herumschrauben und uns ein bisschen mehr Mühe geben. Sie gedeihen, sobald wir uns selbst vergessen und ganz auf den Gnadenstuhl ausgerichtet sind. Wer liebt, sieht und sieht nicht. Er sieht den anderen, er sieht die unausgesprochene Bitte und die ausgestreckte Hand des anderen. Er sieht die bittende Seele derer, die am Wegesrand sind. Und er sieht sich selbst nicht. Es ist wie mit einem gesunden Auge: Es sieht sich selbst nicht, aber es sieht den anderen.
Die Liebe sieht den armen Lazarus, der vor der eigenen Haustür liegt. Sie geht nicht kalt an der Not des anderen vorüber. Sie lässt sich berühren. Sie empfindet die Not des anderen wie eine eigene. Sie packt zu und tut, was nötig ist. Sie opfert die eigene Bequemlichkeit. Sie ehrt den Armen. Sie gehorcht dem Gebot. Denn auch und gerade für den Lazarus gilt ja: »Gott ist Liebe.« Die Liebe sieht die Frau, deren Leben ein einziges Chaos ist. Sie nimmt wahr, wonach diese sich sehnt. Sie ehrt die Ehrlose. Sie trinkt aus einer Dose mit der Verachteten. Sie spricht an, was gesagt werden muss, auch wenn es wehtut. Sie öffnet den Blick auf ein anderes Leben, das möglich wäre. Denn auch für sie gilt ja unverdientermaßen: »Gott ist Liebe.«
Je mehr wir wachsen, umso wichtiger wird es, dass wir sehen lernen und nicht übersehen. John Ortberg erzählt von einer 70-jährigen Frau, korpulent, mit Haarausfall und Arthritis, die eine Liebesaffäre hat.19 Wie es begann? Sie hatte einen Bekannten im Altersheim, auch über 70. Die beiden telefonierten miteinander und trafen sich hin und wieder. Als sie wieder einmal telefonierten, erzählte sie von einer Einladung bei Freunden, und er hörte interessiert zu. Dann fragte er: »Und was hattest du an?« Da fing sie an zu weinen und sagte: »Weißt du, wie viele Jahre es her ist, dass mich jemand gefragt hat, was ich anhatte?« Das ist das Kleingeld der Liebe: Sie hört zu. Sie schaut hin. Sie sieht die Trauer. Sie erkennt den müden, erschöpften Blick. Sie weiß um den Geburtstag. Sie erinnert sich an den Todestag des Mannes einer Witwe. Sie denkt an die Examensprüfung und fragt nach. Sie repariert die Lampe. Sie streicht die Wohnung mit. Sie übernimmt den kleinen Fahrdienst. Sie geht dem nach, der länger nicht mehr da war. Sie ist verlässlich. Sie nimmt sich ein Herz und spricht an, was ihr auffällt, wenn jemand vom Weg abkommt. Sie spricht jemanden auf seine Gabe an. Sie versucht, zu verbinden, was sich trennen will. Sie tut das alles, ohne es zu wissen. Es geschieht, weil ein Mensch zum Gnadenstuhl gefunden hat.
Lebendige, mündige Christen wollen Jesus auf diesem Weg folgen. Dann sehnen sie sich danach, dass Menschen in ihrer Nähe Zuversicht und Liebe finden. Wir sind ja kein religiöses Unternehmen zur Steigerung der kirchlichen Absatzstatistik. Wir merken nur zu oft, wie uns unser Herz Streiche spielt. Wir sind tief verstrickt in unsere Beziehungsnöte, da kann diese nicht mit jener und jener wieder nicht mit diesem. Wir wissen das und es ist gefährlich. Doch wenn Gott Liebe ist, dann ist es ein heilloses Unterfangen, eine lieblose Gemeinde wachsen lassen zu wollen. Geht es um Gottes Liebe, dann wird sein Wesen auf uns abfärben. Nicht irgendein warmes Liebesgefühl, nicht eine großzügige Gleichgültigkeit, die jeden so lässt, wie er ist. Nicht eine Liebe als Forderung an den anderen. Sondern eben Liebe nach Gottes Art: voller Hingabe, Mitgefühl, bereit zu vergeben, bereit Opfer zu bringen, bereit zu Neuem herauszufordern, bereit zuzupacken. Gar nicht klebrig, überhaupt nicht billig, keineswegs unser Werk. Aber geboren aus Gott, dessen Wesen Liebe ist.
3. Freude – die kleine Schwester der Gnade
Tief im Westen gibt es eine fünfte Jahreszeit. Da sang in den Nachkriegsjahren Ernst Neger in Mainz ein altes Trostlied für Kinder, die sich wehgetan hatten. Es wurde der berühmteste Karnevalsschlager: »Heile heile Gänsje, es wird bald widder gut. Es Kätzje hat e Schwänzje, es ist bald widder gut. Heile, heile Mausespeck, in hunnerd Jahr ist alles weg.«20 In einer Strophe erklärt der Sänger, wenn er jetzt mal der Herrgott wäre, würde er die zerstörte Stadt Mainz in den Arm nehmen: »Heile heile Gänsje, es wird bald widder gut.«
Das Lied bietet Trost, weil es doch irgendwie gut wird, weil in hundert Jahren alles vorbei ist, auch das Schlimme. Es geht vorbei. Es währt nicht ewig. Nichts. Leider auch das Leben nicht, aber eben auch der Schmerz nicht.
Viele Jahre früher sitzen jüdische Männer und Frauen in einer vom Krieg zerstörten Stadt. Jerusalem liegt in Schutt und Asche. Notdürftig haben sie unter Nehemias Führung die Stadtmauer wieder aufgebaut. Viel Flickschusterei, mehr Lücke als Mauer. Jetzt kommen sie zusammen, und Esra, ihr Prediger, ergreift das Wort. Die Stimmung ist gedrückt, man sieht mehr Zerstörung als Aufbau, man fühlt mehr Kümmernisse als Freude, man hat ringsum mehr Feinde als Freunde. Und Esra sagt nicht: »Heile, heile Gänsje«. Er beschwört auch nicht die Vergänglichkeit als Trost. Esra ist nicht Ernst Neger, er ist ein in der Bibel verwurzelter Tröster und Seelsorger. Und er wagt etwas Ungeheures: Er redet von der Freude. Er verbietet geradezu die kümmerliche Stimmung. Raus, ihr Trauergeister! »Seid nicht bekümmert; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke« (Nehemia 8,10).
Thema Nr. 1 des geistlichen Trainings für lebendige und mündige Christenmenschen ist Freude. Zielpunkt Nr. 1 unserer inneren Veränderung ist Freude. »Weicht Ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister, Jesus, kommt herbei.«21 »Seid nicht bekümmert; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke!« Darum geht es in der Nachfolge! Gott versorgt lebendige und mündige Christen mit einem Lebenselixier: der Freude!
Was wir von der Freude wissen sollten
Freude ist ein intensives, ein helles und starkes Empfinden, und zwar als innere Resonanz auf etwas Gutes, das uns widerfährt. Freude ist der Hüpfer, den unser Herz macht. Freude überrascht uns. Freude zieht die Mundwinkel und die Augenmuskeln nach oben. Freude ist ein Kribbeln im Bauch. Freude lässt die Sonne aufgehen.
Es ist völlig klar, es gibt tausend Gründe, sowohl für die Freude als auch für ihr Gegenstück, den Kummer. In der Regel denken wir hier zuerst an äußere und irdische Gründe. Und die sind keineswegs zu verachten: ein sonniger Tag nach vielen grauen vernebelten Wochen, eine Frühlingsblume, ein Sieg meiner Mannschaft, frische Brötchen mit Himbeermarmelade, große Dinge, eine bestandene Prüfung, die bevorstehende Hochzeit, die Geburt eines Kindes. Äußere und irdische Gründe: Wenn sie sich einstellen, freuen wir uns – und es ist recht so.
Daneben stehen immer auch die äußeren und irdischen Gründe für großen Kummer, für Sorge, Trauer, ein bedrücktes Inneres. Und die sind alles andere als harmlos: das Alleinsein, die Sorge um den Frieden, Krankheit, eine gefährdete Ehe, zu viel oder zu wenig Arbeit, die Angst vor dem, was kommen könnte. Unser innerer Pegelstand wandert rauf und runter, runter und rauf. Freude und Kummer, mal so, mal so. Das alles ist groß und stark, auch für Menschen, die Gott vertrauen.
Aber Nehemia und Esra sprechen nicht davon, wenn sie den Kummer vor die Tür weisen und der Freude die Tür öffnen. Es geht ihnen offenbar um eine andere Art der Freude. Diese Freude ist tief, stark, hell, leuchtend, warm. Und diese Freude scheint vor allem enorm unempfindlich zu sein, wie eine Super-Hardshell-Jacke, die Wasser und Wind abweist. Eine Freude, die nicht abhängig ist von den äußeren und irdischen Umständen. Eine Freude, die sich in uns so verwurzelt, dass sie unzerstörbar erscheint. Eine Freude, die vor Schmerz nicht kapituliert und in der Tiefe noch leuchtet. Die äußeren Umstände in Jerusalem gaben wenig Anlass zu solcher Freude. Und doch sagen Nehemia und Esra: Hört auf mit dem Kummer, Freude steht bereit, und sie macht euch stark. СКАЧАТЬ