Название: Der FC Bayern, seine Juden und die Nazis
Автор: Dietrich Schulze-Marmeling
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
isbn: 9783730703946
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Antisemitischer Furor
Münchens Fußballmacher plagen andere Sorgen. Die politische Umwälzung bedroht die Unabhängigkeit ihres Spiels. Schließlich sind die neuen Machthaber nicht gerade als Freunde des bürgerlichen Sports bekannt, sondern frönen ganz eigenen Vorstellungen.
Walther Bensemann, weiterhin häufig zu Gast in München, ersucht deshalb um eine Audienz bei Eisner, die ihm zu seiner Überraschung auch prompt gewährt wird. Dem bürgerlich-liberal gesonnenen Bensemann, der für die Sozialisten wenig übrig hat, ist der Revolutionär Eisner nicht unsympathisch. Wie Bensemann besitzt auch Eisner ein Faible für die Boheme-Kultur. Bensemann nennt ihn später »den fähigsten Kopf seiner Partei«. Der Ministerpräsident versichert dem Fußballemissär, dass die neue Regierung die Unabhängigkeit des Sports nicht anzutasten gedenke.
Wenig später erleidet das sozialistische Experiment einen schweren Rückschlag. Bei den Landtagswahlen vom 19. Januar 1919 wird die USPD vernichtend geschlagen. Nur fünf Prozent votieren für die Linkssozialisten. Am 21. Februar will Eisner seinen Rücktritt erklären. Doch auf dem Weg von seinem Amtssitz zum Landtag feuert ein Attentäter aus unmittelbarer Nähe zwei Schüsse auf Bayerns ersten Ministerpräsidenten, die ihn tödlich treffen.
Geschossen hat der völkisch-nationalistische Student Graf Anton Arco-Valley, ein mit der Absetzung der Wittelsbacher beurlaubter Leutnant des bayerischen Infanterie-Regiments. Über sein Motiv schreibt er vor der Tat: »Ich hasse den Bolschewismus, ich liebe mein Bayernvolk, ich bin ein treuer Monarchist, ein guter Katholik. (…) Er (Eisner, d. A.) ist Bolschewist. Er ist Jude. Er ist kein Deutscher. Er verrät das Vaterland.«
Im folgenden Chaos konstituiert sich ein provisorisch regierender Zentralrat der bayerischen Republik. In der Folgezeit streitet man heftig über die Frage »Parlamentarismus oder Räterepublik«, wobei die Räte-Befürworter bald durch die Ausrufung einer sozialistischen Räterepublik in Ungarn Auftrieb erhalten. Am 7. April wird in München die Räterepublik proklamiert, und Thomas Mann schreibt in sein Tagebuch: »Wir haben ›Räteregierung‹ à la russe.«
Viele Münchner Juden fürchten nun einen antisemitischen Furor. Einer von ihnen ist Sigmund Fraenkel, der langjährige Vorsitzende des orthodoxen Synagogenvereins Ohel Jakob und Propagandist eines »bodenständigen bayerischen Judentums«. Fraenkel verfasst einen offenen Brief an einige jüdische Köpfe der Räterepublik, in der er diese als »landfremde, des bayerischen Volkscharakters unkundige Phantasten und Träumer« denunziert. Man habe geschwiegen, »weil wir fürchteten, unsere Glaubensgemeinschaft zu schädigen, wenn wir Sie in der Öffentlichkeit abschütteln. (…) Der heutige Tag, an dem Tausende und aber Tausende von aufreizenden antisemitischen Flugblättern in Münchens Straßen verteilt wurden, zeigt mir mit aller Deutlichkeit die Größe der Gefahr, die nicht die Bekenner unserer Glaubensgemeinschaft, sondern das Judentum selbst bedroht, wenn die große Masse von Münchens werktätiger Bevölkerung die erhabenen Lehren und Dogmen der jüdischen Religion in ideellen Zusammenhang mit den bolschewistischen und kommunistischen Irrlehren bringt, die Sie seit Wochen den durch die viereinhalbjährige Kriegsdauer zermürbten und verwirrten Volksmassen predigen. (…) Dieses Judentum hat Sie und Ihre verworrenen und krausen Phantasien nicht gebraucht.«
Sigmund Fraenkel behält mit seinen Befürchtungen recht, verkennt aber, dass der Antisemitismus auch dann bestens funktioniert, wenn Judentum nicht mit »bolschewistischen und kommunistischen Irrlehren« assoziiert wird. Einige Jahre später, Deutschland und München werden durch die Inflation malträtiert, wird man den Münchner Ostjuden nunmehr »kapitalistische Raffgier« vorwerfen: Sie hätten sich zum Schaden der bayerischen Bevölkerung an der heimischen Wirtschaft bereichert.
Am 30. April 1919 begehen Freikorps in den Vororten Münchens grausame Massaker an Angehörigen der »Roten Armee« der Räterepublik und unbeteiligten Zivilisten. Gustav Landauer, der der Räterepublik längst den Rücken gekehrt hat, wird inhaftiert, geprügelt, gefoltert und, wehrlos am Boden liegend, erschossen. Anschließend wirft man seinen Körper in die Waschküche des Gefängnisses. Am 2./3. Mai 1919 wird München von der Reichswehr und rechtsradikalen Freikorps eingenommen.
Die meisten führenden Mitglieder der Münchner Räterepublik werden vor Standgerichten des Hochverrats angeklagt. Gegen Ernst Toller und Erich Mühsam, aus Posen (Deutsches Reich, später Polen) bzw. Berlin stammende jüdische Literaten, werden fünf bzw. 15 Jahren Festungshaft verhängt. Eugen Lévine, Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus St. Petersburg und Kopf der zweiten Münchner Räterepublik, wird sogar zum Tode verurteilt und am 5. Juni 1919 im Gefängnis Stadelheim erschossen. München hat seinen ersten antisemitischen Furor, kaschiert als Niederschlagung des Bolschewismus.
Die Räterepublik verschwindet, und mit ihr das »linke Judentum« Münchens. Der Antisemitismus aber bleibt und wird im Laufe der Weimarer Republik weiter zunehmen. München wird zu seiner Hochburg. Heike Specht: »Krieg, Revolution und Räterepubliken (veränderten) die Atmosphäre in der Stadt und damit auch die Parameter jüdischen Lebens in ihr dauerhaft. Mehr und mehr wurde München zum Sammelbecken für chauvinistische, revisionistische und antisemitische Kräfte und Gruppierungen.«
Die Niederschlagung der Räterepublik ist nur ein erster Prolog für das, was nach dem 30. Januar 1933 kommen wird. Weitere werden folgen.
Pioniere der Moderne
Wie sich ein Jude definiert, primär als Deutscher oder primär als Jude, als Deutscher jüdischen Glaubens oder als Jude deutscher Staatsangehörigkeit, ist auch abhängig vom Verhalten der nicht-jüdischen Mitbürger. Auf den Sport bezogen heißt dies für den amerikanischen Soziologen Andrei Markovits: »Wie in Politik, Gesellschaft und Kultur verfolgen Juden auch im Sport eine zweigleisige Strategie, die im wirklichen Leben zwar Wechselwirkungen untereinander gestattet, deren Konzepte sich aber von ihrer jeweiligen Anlage her ausschließen: einerseits die Segregation, auf der anderen Seite die Assimilation. Welche von beiden dominierte, bestimmte auch das Verhalten der nicht-jüdischen gesellschaftlichen Umwelt.«
Trotz der bitteren Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, trotz Judenzählung, Dolchstoßlegende und der Ermordung von Außenminister Walter Rathenau im Juni 1922, als, wie Gordon Craig schreibt, »eine Grenze überschritten wurde und Deutschland ein neues und erschreckendes Gebiet betreten hatte, in dem Jude-Sein nicht mehr nur ein Handikap und gesellschaftlicher Nachteil war; jetzt bedeutete es Gefahr, möglicherweise für Leib und Leben«: Auch in den Weimarer Jahren dominiert unter Deutschlands Juden das Streben nach Assimilation, und ihr gesellschaft-licher Aufstieg scheint ihnen recht zu geben. In den meisten deutschen Ländern gibt es jüdische Minister, zwischen 1919 und 1924 sogar sechs Reichsminister. Viele Neuerungen im Film, im Theater, in Literatur, Malerei, Musik, Architektur und Wissenschaft verdanken sich den Berliner oder Wiener Juden.
Auch im Fußball agieren Juden als »Pioniere der Moderne« oder, wie Adorno und Horkheimer es in ihrer »Dialektik der Aufklärung« formulieren: als »Kolonisatoren des Fortschritts«. Bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme sind nur ein bis zwei Prozent der ca. 500.000 deutschen Juden in exklusiv jüdischen Sportvereinen organisiert. Dies entspricht ihrer politischen und kulturellen Orientierung: Die nationaljüdische Bewegung findet nur bescheidenen Zuspruch. Dagegen zählt der assimilatorisch orientierte Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1926 bereits über 60.000 Mitglieder. Seine seit 1922 СКАЧАТЬ