Название: Menschen und Straßen
Автор: Clara Viebig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711466964
isbn:
„Vermaledeites —!“ Schäumend vor Wut hob der Mann den Stiefelabsatz, rechts, links stiess er gegen den Kopf des Tieres, ein leises Wehgeheul durchzitterte die Luft — da — ein Schrei antwortete.
Hans Stibike war blitzgeschwind vom Schaufenster aufgesprungen und hatte sich zwischen Herrn und Hund gedrängt, seine schwachen Hände hatten den Rock des Mannes gepackt: „Nich treten, Herr Lehmann! Iotte doch, Herr Lehmann, tun Se Pluton nischt!“
Die Hand des Lumpensammlers war dem Jungen derb um die Ohren geflogen: „Dummer Bengel, kümmre dir um deine Sachen!“ Noch ein Tritt, der Hund erhob sich schwankend, er zog an, langsam langsam wankte der Karren von dannen.
Mit brennenden Augen, in der Brust einen stechenden Schmerz, hatte der Knabe nachgestarrt, und dann war er zum Fenster des Schlächterladens zurückgeschlichen und hatte unverwandt die Wurst betrachtet. Sie tanzte vor seinen Augen, sie winkte, sie nickte, sie schaukelte hin und her. Wenn Pluto, der arme Pluto, die Wurst hätte! — — — — —
Und heute hatte Hans Stibike gestohlen. Die andern Jungen wiesen mit Fingern auf ihn, die Spatzen von den Dächern pfiffen’s: ‚Dieb, Dieb!‘ Der Inspektor würde es dem Vater sagen! Aber doch glomm ein triumphierendes Licht in den verweinten Augen des Knaben auf. Er sah sich scheu um, und dann fuhr er in den Mund und holte unter der Zunge ein Fünfzigpfennigstück hervor. Krampfhaft presste er’s in der Hand, dann huschte er in den Laden und kam nach wenig Augenblicken wieder heraus, ein Paketchen vorn im Kittel. Wie gejagt stürmte er fort.
Nun war er im Hof; mittäglich still, eng und düster war der, wie immer, dem Knaben schien er erhellt. Sein bleiches Gesicht glühte vor Aufregung, sein Herz klopfte, eine nie gefühlte Seligkeit liess ihn alles vergessen, was seiner harrte: Schimpfworte, Drohungen, Schläge. Mit unterdrücktem Lachen warf er sich im Winkel des Hofes auf die Knie und drückte den zottigen Kopf des Freundes an seine heftig atmende Brust.
„Pluto, mein Hundeken, ik habe wat vor dir!“ Die Tränen schossen ihm in die Augen, als er die Beulen am Kopf und die Striemen in dem zergerbten Fell fühlte. „Hat er dir jehaun, Pluto? Der —! Weene man nich, mein Hundeken, weene man nich! Hier haste de Wurscht! Pluto, freu’ dir, de Leberwurscht!“
Der Hund schnoberte, seine Augen funkelten, er riss den Rachen auf, und freudestrahlend schob Hans ein Stück Wurst nach dem andren hinein. Die Bissen wurden kleiner und kleiner, noch immer schnoberte das Tier verlangend.
„Alle. Nu is se alle, Pluto! Es jab ja man nur ’ne halbe for fufzig! Nu haste ihr intus. Nu kann er mir hauen.“
Und gehauen wurde Hans Stibike, als der Vater vom Inspektor nach Hause kam — unbarmherzig, grausam.
„Verfluchter Bengel, Dieb!“ Der Vater schmiss ihn zur Erde; der Arm war ihm vom Schlagen lahm geworden, nun trat er mit Füssen auf dem Kind herum, das sich, zusammengekrümmt, über die Diele wälzte. „Wo haste det Ield, wo sind die fufzig? Junge, ik haue dir tot!“
„Stibike, um Jottes Willen, Stibike!“ Zeternd hielt die Mutter dem Wütenden den Arm fest. „Du tust ihm ’nen Schaden, du machst ihm zum Krüppel, un wat denn? Stibike, Mann, um Jottes Willen!“ Sie heulte laut auf, und die kleinen Kinder stimmten mit ein.
„Ruhe, halt’s Maul! Jebt mir meinen ehrlichen Namen wieder! Meinen ehrlichen Namen! Habe ick dir darum den Willen jetan un den Bengel mit ufjenommen, als ick dir heiratete? Du Rumtreibern, du liederliches Mensch! Was jeht mir der Bengel an? Ick haue ihm dot, mausedot!“
„Stibike!“
„Ruhe!“
Ein Puff, ein Aufkreischen, das Weib flog zur Seite. Die Schürze vorm Gesicht, verkroch sie sich in den äussersten Winkel; da hockte sie und hielt sich die Ohren zu, sie konnte das Wimmern ihres Kindes nicht hören.
Endlich liess der Wütende ab, erschöpft warf er sich aufs Sofa. „Meinen ehrlichen Namen — so en Hallunke — un so dumm! Weess nischt zu sagen! Aber der Inspekter estimierte mir jleich. ‚Stibike,‘ sagte er, ‚ich sehe, Sie sind en ordentlicher Mann‘, sagte er. ‚Ihnen zu Liebe,‘ sagte er, ‚wer ich’s nochmal mit dem Jungen versuchen, kommt aber das jeringste vor, denn‘ — Bengel, ik sage dir, lässte dir noch eenmal ertappen, haue ik dir zu Mus! So was muss mir passieren — mir — Jottlieb Stibiken?! Mein — mein janzes Leben lang habe ik mir anständig jeführt — da is nischt zu sagen — man schind’t un plagt sich — un so ’n Bengel — durch und durch — ’n Ehrenmann!“
Das letzte sprach Herr Stibike nur noch undeutlich; er hatte sich zu dem Gang in die Molkerei gestärkt und auf dem Nachhauseweg wieder. Er schlief bald ein.
Die Sterne standen am Himmel; einer von ihnen blinkte gerade über den Hof, als Hans Stibike die Kellertreppe heraufschlich. Er konnte nicht gehn, die Glieder schmerzten ihn unsäglich; er kroch die Stufen aufwärts. Er tastete sich über den Hof; im Winkel beim Hund sank er weinend nieder. Leise knurrend leckte ihn Pluto und streckte sich dann auf seine Füsse.
So lagen sie beide — wund, müde, zerschlagen — und über ihnen stand ein goldener Stern. Sie sahen ihn nicht.
„Männeken, wo haste den Jroschen? Du hast doch nich etwa wieder lange Finger jemacht?“ Der Kutscher rüttelte ihn.
„Ik habe ihm nich, Se können mir jlooben, ik habe ihm nich jenommen, wahrhaftig nich! Jott, o Jott!“ Jammernd zeigte Hans Stibike die leeren Hände.
Sie standen neben dem Milchwagen auf der Strasse, ein kühler Herbstwind fegte bunte Blätter von den Bäumen, ihnen vor die Füsse.
Der Knabe zitterte und bebte im rauhen Hauch, selbst wie ein welkes Blatt. „Ik habe ihm nich, o lieber Herr Schulze, zeijen Se mir nich an! Ik habe ihm nich, ik habe ihm nich, ik habe ihm nich!“ Sinnlos wiederholte der Junge immer dieselben Worte.
„Det kann jeder behaupten“, sagte der Kutscher phlegmatisch. „Komm man nach ’n Hof, det wird jemeld’t!“ Und er packte den Jungen am Kragen.
Wo war der Groschen geblieben? Vielleicht zur Erde gerollt, vielleicht nicht richtig herausgegeben. Aber er war fort, und Hans Stibike, dem, der einmal gestohlen hatte, dem glaubte man nicht.
„Du bist entlassen, und zwar sofort“, sagte der Inspektor. „Deinem Vater werde ich Mitteilung machen.“
Schwankend, wie ein Trunkener, ging Hans durch die wohlbekannten Strassen. Sie glaubten ihm nicht, sie glaubten ihm nicht — was nun?! Eine sinnlose Angst bemächtigte sich seiner. Wieder fühlte er die Schläge, die damals im Sommer seinen schwachen Körper fast zerbrochen hatten; jetzt war es Herbst, aber die Schwielen waren kaum verharscht. Er hörte schon das Schimpfen des Vaters, er hörte das Jammern der Mutter, er hörte das eigene Ächzen. Kalter Schweiss trat ihm auf die Stirn und rieselte an seinen Schläfen herunter. Schwindelnd schloss er die Augen — wohin, wohin?! Sollte er sich im Grunewald verkriechen zwischen Kiefern und Wacholdergestrüpp? Sie würden ihn finden. Sollte er fortrennen draussen in die Haide, hinaus vor die Stadt? Sie würden ihn finden. Sollte er sich davon machen irgendwohin in die weite Welt? Sie würden ihn auch da finden.
Mit trostlosen Augen, totenblass kam er heim; er sagte nichts, sie erfuhren’s ja noch zeitig genug.
„Biste krank, Junge?“ fragte die Mutter und fuhr ihm mit der rauhen Hand übers Haar; sie mochte ihn doch leiden, sie traute sich nur nicht, heute jedoch war der Vater nicht zu Hause. „Biste krank?“
Er СКАЧАТЬ