Название: Menschen und Straßen
Автор: Clara Viebig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711466964
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Mauke ging weiter, nicht gemessenen Schrittes, wie man hier zu gehen pflegt, nein, er lief eilig, wie beschwingt, er rannte. An weissen Hügeln vorbei, an weissen Bäumen vorbei, ganz zum Ende des Gartens und dann rechtsum — da lag sie.
Atemlos hielt er an, rot und heiss.
Scheu sah er sich um: niemand in Sicht! Einsam waren die vielen Ruheplätze mit den Gittern, die Schneehauben trugen.
Kahle Rosenstämme, verschneite Zypressen, und der Himmel darüber weisslich-grau und schwer zum Niedersinken.
Mauke zog etwas aus der Tasche und legte es nieder aufs Grab mitten darauf:
„Da, Mariechen, da hast du sie!“
Der Kollege mit dem roten Nelkenstengel arbeitete nicht mehr im gleichen Bureau mit Sekretär Mauke, seit Dezember hatte er die Stellung gewechselt. Ein paar Wochen nach Weihnachten begegnete er aber dem früheren Amtsgenossen auf der Strasse.
„He, Mauke!“ Der Kollege hatte heute keinen Nelkenstengel zwischen den Zähnen, wohl aber ein Tannenreis; er nahm’s heraus, um besser sagen zu können, wie er sich freue. „Ne, alter Knabe, famos, dass wir uns mal treffen, was? Na, wie jeht’s denn?“
„Ich habe mein Kind verloren“, sagte Mauke eintönig.
„Wie, — was?! Ne, so was! Wann denn?“ Der Kollege kaute wieder an dem Tannenreis, er musste sich Fassung daran saugen. „Wie alt war’s doch gleich?“
„Es hatte die ersten Schuhchen vertragen. Ich brachte sie Mariechen ’raus aufs Grab. Nun hat sie“ — Mauke schluckte, und dann wandte er sich ab.
Der andere hörte ihn noch murmeln: „Nun hat sie — die kleinen, braunen Schuhe!“
Der Klingeljunge
Der Hof eng, düster. Kaum ein Stück Himmel sah herein, und auch das angegraut vom Rauch der Schornsteine. Das Pflaster unten war stets feucht; die spitzen Steine schwitzten eine klebrige, modrige Nässe aus, nie wurden sie von der Sonne getrocknet. Die glitt nur im Sommer um die Mittagszeit bis zur Hälfte der dunklen Mauer des einen turmhohen Seitenflügels.
Drinnen in der Kellerwohnung war es immer halb Nacht. Tappte man die fünf nasskalten Stufen herunter, so stiess man die Nase an die schmale Eingangstür; strengte man die Augen recht an, konnte man auf einem angenagelten Stückchen Pappe lesen:
Stibike, Schuhmachermeister.
Es war später Mittag. Die kleinen Leute auf dem Hof hatten alle gegessen, sämtliche Fenster der beiden Seitenflügel standen offen; man hörte Tellergeklapper und Kindergequarr, Gerüche von Kohlrüben, Knoblauchwurst und gebratener Zwiebel wehten aus und ein.
Jetzt stimmte eine schrille Weiberstimme in den höchsten Tönen irgendeinen abgelebten Gassenhauer an; es kam was drin vor von Sommer und Liebe und Seligkeit. Die Weiberstimme gellte, sie tat sich ein ordentliches Genüge, dazwischen brüllte ein Kind auf, und Geschirr rasselte zur Erde.
„Nanu, Sie olle Zeterliese, halten Se man jefälligst de Schnauze! Wenn jeder hier nu so jröhlen wollte — is det en verfluchter Radau!“ Eine grobe Stimme schrie über den Hof; ein Fenster wurde krachend zugeworfen, der Gesang verstummte.
Nun war alles still. Bis zur Hälfte der hohen Seitenwand fingerten Sonnenstrahlen auf und nieder, reckten sich ein Stückchen weiter empor und zogen sich wieder scheu zurück. Draussen auf der Strasse sollte Sommer sein, heisser sogar, Bäume sollten mit vollem grünen Laub rauschen; hier grünte kein Hälmchen. Nur eine verbrauchte, dicke Luft machte einen schwitzen, und dabei fröstelte es einen doch über den Rücken.
Die kleinen Leute auf dem Hof hielten alle einen kurzen Mittagsschlaf — eins, halb zwei, zwei ist die richtige Stunde dafür — da, halt! Ein Fenster öffnete sich noch, und jemand schleuderte etwas aufs Pflaster. Ein Knochen war’s. Da lag er, das beschattete Licht blinzelte drüber hin.
Die Hundeaugen, die dort mit glühendem Funkeln von der morschen Hundehütte aus jenem dunkelsten Winkel spähen, wurden grösser und grösser vor Gier. Geräuschlos, Pfote vor Pfote setzend, schlich das Tier zur Hütte heraus; der magere Leib streckte sich ganz lang, er wand sich förmlich über die Steine, der Hals zerrte sich, die Zunge lechzte — vergeblich, die Kette war zu kurz, der Knochen nicht zu erreichen! Mit einem kläglichen Winseln gab der Hund seine Anstrengungen auf.
Nun lag er platt vor der Hütte, den struppigen Kopf auf die Pfoten gedrückt, die Augen halb geschlossen und doch wachsam nach allen Seiten schielend. Die Fliegen surrten ihm um das zottige Fell, sie setzten sich auf das klebrige Nass, das ihm gleich zähen Tränen aus den Augen lief; mit dumpfem Knurren richtete er sich halb auf und schlug mit dem Schwanz die hohlen Flanken.
Der Knochen, der Knochen — wie er da mitten auf dem Pflaster lag! Die Fliegen schwirrten jetzt hinüber und setzten sich darauf. Ein wehmütiges Licht glomm in den sprechenden Hundeaugen auf; noch ein letzter Blick, dann stiess die plumpe Schnauze an den Trinknapf — der alte Scherben leer, nicht einmal Wasser!
Mit hängender Zunge legte sich das Tier wieder nieder; noch ein Schnuppern nach rechts und links, dann schien es zu schlafen.
Da, horch! Klappen der Hoftür, schleichende Tritte auf dem Pflaster!
Mit leisem Gewinsel sprang der Hund auf, und nun umschlangen ihn schon zwei Arme, eine Kindergestalt kauerte sich neben ihn auf den Boden: „Na, Pluto, mein Hundeken!“
Es war eine überaus zärtliche Begrüssung. Der Hund machte einen täppischen Sprung und stiess den dicken Kopf gegen die schmale Brust des Knaben, leckte ihm die Hände, das Gesicht; und dieser liess sich’s gefallen mit einer müden, traurigen Freude.
„Pluto, mein Hundeken, keen Wasser? Na, warte man!“
Der Junge erhob sich von den Knien und füllte den halbzerbrochenen irdenen Napf am Brunnen; dann, als ob er die Hundegedanken erriete, brachte er den Knochen herbei und sah ernsthaft zu, wie die starken Zähne des Tieres den zermalmten.
Mit wehmütigem Lächeln zeigte er nun die leeren Hände: „Nischt mehr, Pluto, reeneweg nischt mehr! Aber warte man, hab’ man Jeduld, wenn ik Jelder habe, denn sollste dir wundern, mein Hundeken, denn spendiere ik wat! Denn kriegste die dicke Leberwurscht, die drüben bein’. Schlächter hängt! Du kannst dir druf verlassen.“
Hans Stibike hatte gut versprechen, — wo sollte er wohl das Geld herbekommen, das die dicke Leberwurst drüben beim Schlächter kostete?! Einstweilen hatte er nichts für den Freund, als jeden Morgen und jeden Abend die Hälfte seiner Stulle, ab und zu ein paar abgenagte Knochen, und all die Liebe, die sein junges Herz empfand.
Hans Stibike war Klingeljunge in der grossen Molkerei draussen im Norden.
Der Mond stand oftmals noch blass am Himmel, wenn der Klingeljunge den elterlichen Hof verliess; seine magere, kleine Gestalt drückte sich durch die noch menschenleeren Strassen. Im Winter war es eisigkalt, trotz der Fäustlinge und des Shawls um die Ohren; im Sommer schlich er in der glühenden Mittagshitze heim, matt wie eine Fliege. Er war im Wachstum zurück, seine zwölf Jahre sah ihm keiner an: matte Augen, platte Nase, wachsbleiche Ohren; die niedrige Stirn zeigte schon fest eingegrabene Falten, und der Rücken hatte die Neigung, sich zu krümmen.
Wie er jetzt dem Hund einen letzten liebevollen Abschiedsklaps СКАЧАТЬ