Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen

Автор: Hermann Stehr

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788075831040

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СКАЧАТЬ Nur wenige folgten der Leiche auf den Kirchhof. Der wahnsinnige Dorn-Schuster, über und über mit Blumen besteckt, ging eifrig gestikulierend und unter fortwährenden Selbstgesprächen in dem kleinen Schwarm. Von ferne schwankte Rinke dem Sarge nach. Er weinte von Zeit zu Zeit laut auf, riß den Hut herunter und schlug an seine Brust. Als das letzte Lied am Grabe gesungen wurde, erschien sein blasses, gramvolles Trinkergesicht über der Mauer, denn er hatte sich nicht auf den Gottesacker getraut. Plötzlich schrie er in höchster Pein mit fast tierischer Stimme: »Ich bin ein Hund! Ich bin ein Hund!« und hörte nicht auf, bis ihn der Polizist abführte. Dorn las alle Blumen von seinen Kleidern, warf sie dem Sarge nach, kniete hin und küßte inbrünstig die Totenbretter. Dann lief er, von großer Angst gepackt, durch die Straßen der Stadt ins Spital zurück.

      Am tiefsten wurde meine Mutter davon erschüttert. Sie sah in diesem Fluch über das Grab hinaus die Strafe Gottes und hielt sich von da an eigentlich nur noch in der Kirche auf. Sie lag vom Morgen bis zum Abend hinter den Bänken im finstersten Winkel auf den Knien und betete. An einem hellen Sommertage sahen sie Leute ein Fenster unseres Hauses nach dem Stadtgraben zu öffnen und, mit einem langen, weißen Mantel angetan, auf das Fensterbrett treten. Ihr Gesicht war glückvoll, und sie sang ein ganz leises Lied. Ehe noch jemand zu Hilfe kommen konnte, breitete sie die Arme aus und stürzte mit dem jauchzenden Ruf: »Der Himmel!« auf die Straße.

      – – – – – – –

      Auf halbem Wege ist mein Vater umgekommen, der ehrwürdige Wahn hat meine Mutter in den Tod verwirrt. Von den Gräbern der Ahnen wehte eine Luft der Angst. Und ich war zehn Jahre ein Mann des halben Weges, litt weiter am alten Wahn und den Fesseln des Gewesenen. Aber in den Söhnen wird ja nicht bloß das Vergangene wiedergeboren, sondern es kommt mit ihnen das Uranfängliche, das das wahre Künftige ist, zur Welt. Ob wir auf seidene Kissen oder auf Stroh in dieses Leben fallen: ein jeder Mensch ist ein neues Gottes-, Welt- und Menschengericht.

      Ich war das Kind meiner Eltern in Not und Treue; nun bin ich mein eigener Vater geworden, mein Sohn und mein heiliger Geist. Es ist ein neues Sehen in mir, ein neues Wissen und Sehnen. Das will ich den Menschen bringen: Denn die alten Wahrheiten sind schal geworden. Sie gleichen leeren Hülsen und Glocken, die das Geläut verloren haben.«

      Dieses alles sprach Faber wie einen hohen Gesang in das Morgenlicht hinein, das sich immer heller entzündete. Aus seinem Gesicht war alle Düsterkeit gewichen, und der Klang seiner Stimme quoll über von eherner Sanftmut.

      Der Wald des Feistelberges trat immer deutlicher aus der Dämmerung heraus und es war, als wandere er aus der Ferne zu uns heran. Von Raspenau tönte wie ein traumhaftes Lied der Stundenschlag der Uhr.

      Faber achtete auf alles in heiterer Bereitschaft und sprach dann: »In einer Stunde kommt die Sonne. Wir wollen uns derweil hinlegen und schlafen. Dann gehst du in deinen Dienst und ich in meinen.«

      Er wickelte sich in den Mantel und versank sogleich in tiefen Schlaf. Ich war überwach von den Ereignissen der Nacht, und während ich allem noch einmal nachsann, betrachtete ich voll Staunen das Gesicht meines ruhenden Freundes, der nach den fast übermenschlichen Anstrengungen dalag, stark und schön, wie einer, den Frohsinn ermüdet hat, und ich wurde fast traurig und zaghaft im Betrachten dieses Unzerbrechlichen.

      Indessen erwachte das Geflöt der Amseln im Walde. Lerchentriller schossen in die Höh' und taumelten wieder schlaftrunken ins Gras. Zuletzt wurde es mir auch grau vor den Augen. Ich lehnte mich gegen den Stamm des Feldbirnbaumes und schlief ein.

      Ein Gemurmel weckte mich. Als ich die Augen öffnete, schwebte die Sonne wie eine riesige, glühende Hostie über den Feistelbergen, und Faber stand außerhalb des Baumschattens auf dem Hügel, von dem ersten Licht umflossen und redete in das Gestirn hinein. Jetzt, da er sah, daß ich wach sei, trat er an mich heran, streckte mir die Hand entgegen und sagte: »Ich danke dir von Herzen, Kastner! Du hast mir das Beste gegeben, was ein Mensch dem anderen geben kann: Du warst mir ein Licht auf meinem Wege, und deine treue Seele klang mir den Sinn meines Sinnens wider. Lebe dein Wohl! das ist mein Wunsch. Und wenn du mir einen Gefallen erweisen willst, so sieh dann und wann beim alten Plaschke nach, dem ich meine Sachen schenke. Grüße ihn herzlich von mir und gib Liese diese Andenken wieder. Sage ihr dabei: Die Getrennten sind nicht geschieden. Dann hat ihr Leben ein Hoffen.«

      Ich fragte ihn noch, was ich der Schulbehörde sagen solle und wohin er zu reisen gedenke.

      Er antwortete: »Sprich: Er hat als ein Tor töricht gehandelt und ist seinen Füßen nachgelaufen.« Damit schritt er den Hügel hinunter und verschwand in dem Gewirr der Obstbäume, zwischen den Hütten, in denen da und dort ein Webstuhl dumpf zu stampfen begann. Der Morgenwind strich durch die Kronen und trieb die Blütenblätter in die Luft, daß sie wie ein weißer Regen von der Erde in den Himmel wirbelten. Der Nadelwald rauschte ehern wie ein ferner Wasserfall; die Birken wiegten sich mit leisem Gesäusel, und ihre jungen Blätter zitterten wie der unruhige Schleier grüner, tanzender Mücken um die weißen Stämme.

      In Gedanken versunken, stieg ich noch einmal in Fabers Stübchen hinauf, um mir alles fest einzuprägen. Als ich aus dem Fenster in den Wecknitzer Kessel sah, hörte ich, schon tief im Birkenwäldchen, die Stimme meines Freundes jenes Lied seiner Mutter anstimmen, das er gesungen hatte, als ich ihn das erstemal einsam und verdüstert an dem kleinen Wasser traf, den Hut im Nacken, ratlos mit dem Stock in den Wellen rührend.

      Und ob mein Schiff vor Anker liegt

       bei ganz konträrem Winde:

       Ich hab' die Hoffnung immer noch,

       daß ich den Ausweg finde.

      Aber nun klang es wie ein Triumphgesang über den Tod, wie ein Auferstehungslied des Lebens.

      Der Heiligenhof

       Inhaltsverzeichnis

       Erstes Buch

       Erstes Kapitel

       Zweites Kapitel

       Drittes Kapitel

       Viertes Kapitel

       Fünftes Kapitel

       Sechstes Kapitel

       Siebentes Kapitel

       Achtes Kapitel

       Neuntes Kapitel

       Zehntes Kapitel

       Elftes Kapitel

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