Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen
Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075831040
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Es waren fast oresteische Ketten, mit denen ich mich selbst gefesselt hatte. Aber eines der seltsamsten Mittel, die Menschen anwenden, ihrem Leiden zu entschlüpfen, besteht darin, daß sie es übertreiben, und so hatte ich es in den vier Nebeltagen nach Willmanns Tode dahin gebracht, mir nicht nur unsere Familie und vor allem mich, sondern das Leben der Menschen überhaupt und die ganze Welt zu Schmerz und Not geschaffen vorzustellen. Mochte ich die kurze Burgzeile hinauf- oder hinuntersehen, überall fand ich die geheimnisvolle grause Nacht am Werke, die Menschen in immer tiefere Finsternisse zu ziehen. Den Fleischer Mahn hatte der Trunk von seinem jagenden Gefährt unter die Räder gestoßen, der alte Grulich saß erblindet vor der Schusterkugel in seiner Stube, und der Pfeffer-Gerber strich zwar wie sonst noch an den Abenden hinter den Johannisbeersträuchern des Gärtleins an der Stadtmauer umher und sang, die rechte Hand unters Kinn geschlagen, in die Schatten, aber sein Lied klang nicht mehr verschüchtert und leise. Denn seine eheliche Rechtlosigkeit hatte ihn endlich wundgerieben, und von heimlichem Rausch entzündet, schnob das demütige, zerbrechliche Männchen Revolutionsgesänge, bis er in der Laube über den Tisch sank und einschlief. Wohin ich sinnen und sehen mochte, es gab nicht einen Menschen, den sein Schicksal nicht plagte. Hatte ich also ein Recht, gegen das große Dunkel mich aufzulehnen, das alle führt? War es nicht vielmehr meine Pflicht, meine Qual mutig auf mich zu nehmen und treu zu tragen? Soweit war ich, als der Nebel, der so lange die Dächer Heisterbergs bedrückt hatte, eines Abends verschwand wie eine Decke, die unversehens jemand wegzieht, und alles schimmerte und läutete in der Stadt. Die Kinder faßten sich an den Händen und wogten in bunten, singenden Ketten die Häuser hin. Der Himmel flatterte über den Türmen wie eine blauseidene, schimmernde Fahne, in die die sinkende Sonne rote Streifen malte. Und plötzlich kam mit der Tod des alten Willmann auch nicht mehr so schrecklich vor. Er war in das Feuer hineingestorben, in das Licht, in die Verklärung alles Irdischen, und wie mich dieser Gedanke, gleich einer Erlösung, überfiel, brachte ich es auch über mich, aus meinem Fenster hinaus wieder den alten Wartturm anzusehen.
Er stand in rosigem Licht da. Aber seinem verwitterten Gemäuer bebte der Schimmer wie eine empfindsame Haut, und der Adler lag mit gebreiteten Schwingen über der Spitze, als sei er im Begriff, gestreckten Fluges sich in den Himmel fortzuschwingen. So war die Seele des Greises ins Unermeßliche entwichen, reißend, mit einem schreckhaft frohen Jauchzen, und ich betrachtete den Turm, von Abendglut übergossen, wie eine Offenbarung, wie ein tiefes Symbol eines tiefen Lebens. Meine Augen suchten selbst in den Winkeln und ausgebröckelten Löchern des verwitternden Gebäudes noch bedeutsame Spuren dieses geliebten, ausgereiften Lebens. Das schwindende Licht rückte indessen immer höher an dem Gemäuer hinauf, und nun loderten die Mauerzacken wie ein Feuerkranz um die plumpe, hohe Spitze. Und in der linken Ecke bemerkte ich auf einer Stange, gleich einer winkenden, blassen Hand, einen hohen Strauß weißer Astern. Ich war von dem Anblick so erschüttert, daß mir die Tränen nur so über die Wangen schossen. Mit Blumen grüßte mich der Tote noch von jenseits des Grabes her! Ich barg meinen Kopf in die Hände und verlor mich in die Vergangenheit. Da sah ich den Ehrwürdigen hinter der Wehrmauer stehen, und der Abend blühte so rot wie heute um die Spitze. Aus dem Fenster in der Stadtmauer neigte sich ein blonder Mädchenkopf. Als Willmann den sah, blinzelte sein Auge glücklich zu mir her, der neben ihm stand, nahm Samenkörner, streute sie in den Abend hinaus und sagte: Wir wollen das ins Licht säen, damit ihr Leben ins Sonnenhafte gedeihe ...
Als ich meinen Kopf aus den Tränen hob, war das Rot längst erloschen, und das Dunkel braute um den Turm; aber die bleiche Asternhand sah ich noch hinter den Mauerzacken winken.
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Die blasse Hand hat mich wirklich in den Schimmer geführt. Eines Sonntags fand ich mich als Teilnehmer an der Prozession ein, die nach dem Laternenanzünden allabendlich um den Ring unseres Städtchens zog, bis die Nachtwächter ihre erste Stunde pfiffen. Sie bestand fast nur aus Gesellen und Dienstmädchen. Wenige Schreiber, Schüler und Töchter kleinerer Bürger waren darunter. Nach dem Abendessen strömten sie aus den vier Straßen auf das breite Trottoir des Ringes und pilgerten unermüdlich nach Liebe, immer wechselweise eine Reihe Schürzen und eine Reihe Glimmstengel. Scherzreden und Gelächter flogen hin und wider, und im Scheine der Ecklaternen verfingen sich auf einen Moment die Blicke der Verliebten. Bürger kreuzten dick und langsam den bunten Schwarm. Der Herbsthimmel hing hoch und voller Sternenfunken über dem Rathaus. Er war so groß und blau, daß man verstummen mußte, wenn man ihn ansah. Dies Schweigen ergriff oft alle. Dann war es so still, daß man das Wasser des Stadtbrunnens über den ganzen Platz klingen hörte. In solchen Augenblicken wurde mir vor Erwartung fast bange, denn ich glaubte, nun werde Wally Göppert unvermutet an mich herantreten und fragen: »Warum gehen Sie so allein?« Dann wollte ich antworten: »Fräulein Wally oder liebe Wally, ich warte auf Sie. Nehmen Sie es mir nicht Übel, daß ich an dem Sommerabend so von Ihnen fortgelaufen bin, denn ich war damals sehr unglücklich. Ehe die weißen Astern verwelkt find, müssen Sie wieder gut sein auf mich.« Das wollte ich sagen, wenn sie kommen und mit der Hand meine Achsel berühren würde. Ich dachte mir noch vieles Schöne aus, auch von dem alten Willmann. Aber wenn ich im besten Zuge war, prasselte das Lachen und Scherzen vor und hinter mir wieder auf. Alles, was ich mir ausgesonnen hatte, kam mir recht töricht vor. Ganz beklemmt ging ich an der weit offenen Tür des Kaufmann Pausewangschen Hauses vorüber und sah immer nur das winzige Flurlämpchen, das wie ein gelber Nagelknopf von der finsteren Wand schimmerte. So kreiste ich unzähligemal um das Rathaus und hatte eben wieder den Entschluß gefaßt, unwiderruflich den letzten Rundgang anzutreten, als ich einen Burschen vor der breiten Tür zu meiner Ersehnten in aufgereckter Haltung und geckenhaftem Schritt auf- und niederpendeln sah. Er wippte mit seinem Spazierstöckchen, sang ausgelassen lustig durch die Zähne, blieb häufig stehen und leuchtete mit brennender Zigarre auf das Zifferblatt seiner Uhr, kurz, benahm sich wie einer, der ungeduldig ein versprochenes Stelldichein erwartet. Das machte ihn mir verdächtig, und als ich näher hinsah, erkannte ich in ihm den Sohn des Glöckners Kinzel, der als Kommis in der Eisenhandlung der Stadt beschäftigt war. Ein fader, widerlicher Schwätzer mit dem Draufgängertum, der Ladendiener auszeichnet. Wenn Wally Göppert mit ihm ging, so wollte ich ihr keine Stunde im Wege sein, konnte ich auch nicht begreifen, wie dann die Verheißung Willmanns von meinem glücklichen, sonnenhaften Leben in Erfüllung gehen sollte, die mich doch eigentlich hierher geführt hatte. Das Wort Lebendiger ist vieldeutig und unsicher wie ihr Leben; aber das Versprechen, das Abgeschiedene uns hinterlassen haben, gilt uns als heilig. Es mußte wahr sein, was der Greis zu mir gesagt hatte, und ich fühlte, daß ich mein Leben nicht würde ertragen können, wenn mir das Licht dieser blonden Mädchenhaare erblassen müßte. So ward ich verhindert, jäh und barsch vom Ringe weg in mein Bett zu laufen. Geduldig, wenn auch in zweifelsüchtiger Unruhe, begann ich, wieder vor der breiten Tür vorbeizukreisen.
Schon pfiff in einer fernen Gasse der erste Nachtwächter. Nur wenige, nun schon zu Paaren verschlungen, wandelten noch umher. Ich trat, um mir nichts entgehen zu lassen, vom Bürgersteig auf das Pflaster des Platzes und behielt den Hauseingang sorgsam im Auge. Die helle Hose Kinzels schwenkte noch immer auf und ab. Plötzlich flammte im Innern des Hauses ein Licht auf, und der Verliebte verschwand, wie von dem Schein gerufen, in den Flur. Allein schon bald tauchte er mit schnellem Schritt wieder unter der Tür aus und entfernte sich eilig und ohne Umsehen in der Richtung nach der Kirche. Hinter ihm quoll ein fettes, grunzendes Husten aus dem Hause, und noch ehe der Flüchtling die nächste Straße erreicht hatte, stand der dicke Pausewang auf der Schwelle, schaute sichernd die Ringseite auf und ab, schnob zornigen Atem ins Dunkel und steuerte dann quer über den Platz auf das rote Licht der Stadtbrauerei zu.
Obwohl der erste Versuch einer Annäherung so mißlungen war, obwohl ich mich sogar an den folgenden Abenden überzeugen mußte, daß zwischen Wally und dem faden Kommis eine Beziehung bestehe, ich verlor doch nicht die frohe Sicherheit, das Mädchen sei mir noch geneigt. Sie stand zwar neben ihm und duldete, daß er auf sie einsprach; näherte ich mich aber, um von ferne vorüberzugehen, so bemerkte ich, wie sie teilnahmslos wurde, von ihm ein wenig abrückte und СКАЧАТЬ