Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen
Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075831040
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Aber seit dem Tage, an dem ich gegen den Pater Neumann unrechten Gebrauch von meinem verborgenen Wissen gemacht und damit das feierliche Versprechen an Willmann gebrochen hatte, betrachtete ich nicht bloß den Weg zur Turmpforte für mich auf immer verrammelt, sondern ich arbeitete mich endlich zu dem Entschluß durch, solange alle Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Welt, alles Suchen nach Wahrheit zu unterlassen, bis ich die Schuld gegen meine Eltern und die Untreue gegen den ehrwürdigen Greis abgebüßt hätte. Nichts sollte mehr in mir Raum haben als die Sorge für meine Eltern. Durch dieses selbstgeschaffene Gelübde hoffte ich auch den Allgeist Willmanns Zu versöhnen, gegen den ich freventlich gesündigt hatte. Ich glaubte seine Nähe oft zu fühlen im Brausen des Windes, in einem fast redenden Rauschen der Bäume, in einem großen Schatten, den ich, vom Schlafe auffahrend, neben meinem Bett empfand, und nahm diese Beklemmungen und rätselhaften Heimsuchungen für Beweise seines Daseins. So verwandelte sich unmerklich die stille Verlorenheit meiner Seele in stille, ahnungsvolle Sicherheit, und während ich noch als Unwürdiger und Abgedrängter trauerte, näherte ich mich, ohne es zu wissen, schon schüchtern und furchtsam meinem Gott. Allein das Schicksal meiner Eltern war zu weit gediehen. Fall folgte auf Fall, und der Fortgang dieser geheimen Bildung wurde schon im Anfang wieder in Frage gestellt.
Meine Mutter schien sich am ehesten von uns allen der Folgen jenes Abends erwehrt zu haben, der keinen Zweifel mehr zuließ, welche schicksalsvollen Verkettungen das Glück von unserem Hause fernhielten. Ihre Augen glommen oft in einem Glanz, der mich restlos erfreut hätte, wäre er nicht manchmal in starres Brennen übergegangen. In solchen Momenten faßten ihre Hände, was sie auch hielt, krampfhaft und drohend wie eine Waffe. Aber schnell, wie diese schreckhafte Veränderung kam, ging sie auch wieder, und ich legte ihr leine Bedeutung bei; denn eine obwohl umwölkte, doch tiefe Liebe und Zärtlichkeit verschönte dann tagelang ihr emsiges Schaffen.
Nach einer schlaflosen Nacht trat ich ungewöhnlich früh in unsere Wohnstube. Das Grau des ersten Lichtes lag wie ein schwerer Dunst in dem Gemach, daß die Gegenstände nur schwach hervortraten. Ich setzte mich an Vaters Platz auf das Sofa und sah zum Fenster hinaus, um das Kommen des Morgens zu beobachten, der wie ein schwacher Feuerbrodem hinter den Tüchern rot zu rauchen begann. Eben sann ich darüber nach, ob die Natur oder meine zerwühlte Nacht dem Morgen diese schwere Stimmung gegeben habe, als aus der Gegend des väterlichen Werktisches ein Seufzen klang, leise und zäh, wie es manchmal aus dem Munde angstvoll Träumender kommt. Ich sah gespannt hin, gewahrte aber nichts als die gerade Linie der Werkplatte und darüber die Schemen irgendwelcher Geräte. Deswegen glaubte ich, dies niedergezwungene Stöhnen bewußtlos selbst ausgestoßen zu haben und versuchte, zu meiner Beruhigung, es ein zweites Wal hervorzubringen. Wie ich mich auch bemühte, der Ton wurde jedesmal rauher und tiefer. Das wehe Vibrieren dieses langen, müden Atemzuges gelang mir nicht: Also rührte der Laut doch nicht von mir her. Ich stand auf und sah mich mit einer Ungründlichkeit in der Stube um, die mir die Wahrnehmung als Täuschung bestätigen sollte. Denn das Grübeln einer langen Nacht macht unlustig zu neuen seelischen Aufregungen. Ein leerer Breitwagen fuhr polternd den Stadtgraben hin, und seine Eisenteile klirrten. Ich war im Begriff, an das Fenster zu treten, um in flüchtender Neugier zu sehen, wer so zeitig und schnell fahre, als kennte ich alle Fuhrleute der Stadt. Bei den ersten Schlitten stieß ich an einen weichen Ballen, und als ich mich niederbeugte, erkannte ich die zusammengekauerte Gestalt meiner Mutter, die vor dem Arbeitsschemel des Vaters hockte. Sie wandte mir ihr übernächtigtes Gesicht einen Augenblick zu und lieh es dann langsam wie vor großer Ermattung wieder zwischen die Hände auf den Sitz des Schemels sinken.
»Guten Morgen, Mutter,« redete ich sie an, als ich mich von der Überraschung erholt hatte, »warum stehst du denn so zeitig auf? Es ist ja noch grauer Morgen.« Eine tiefe Stille nahm meine Worte auf. Endlich antwortete meine Mutter: »Nein, nein, es ist Nacht. Tiefe Nacht.« Sie redete tonlos, wie ein unabwendbares Geschick in uns laut wird.
Trotzdem ich sofort wußte, daß ihre Worte einen tieferen Sinn hatten, lautete mein Trost: »Aber Mutter! Dort ist der Morgen, rauchrot wie ein Kohlenfeuer!«
Es dauerte wieder eine Weile, ehe sie antwortete:
»Mein Kind, es ist Nacht. Nacht. Du müßt's doch auch wissen, du, denn du hast die Nacht auch.«
»Mutter, du bist krank,« sagte ich nun hastig, »ich werde den Vater rufen.«
Ihre Augen bekamen den Glanz einer frischen Wunde. »Ja, ja, geh'!« sprach sie strafend, »seit dem Abend weiß ich's ja, daß du es verstehst, deinem Vater weh zu tun.«
»Aber, Gott im Himmel, Mutter!...« rief ich bestürzt.
»Was sagst du da?« Mit dieser Frage schnitt sie mir die Worte ab, und jäh kam in ihr Gesicht ein heißes Leben. Sie hob im Schwung eines einsetzenden Sturmes beschwörend ihre Hand. Doch nur einen Augenblick verharrte sie so. Dann sank ihr Arm wieder fallend auf den Sitz des Schemels, und sie kauerte sich hin wie vorher.
»Ach, wenn doch ein Mensch wär', zu dem ich reden könnte«, sagte sie in ringendem Aufatmen.
»Mutter, bin ich dir nicht gut genug?« fragte ich unsicher. »Du!« sagte sie und sah mich mit beängstigender Starrheit an, »ich red' anders, und du red'st anders. Wir verstehen uns nicht mehr ... aber ich hör' doch nicht auf.«
Dann hob sie ihr Haupt und wandte das Gesicht dem Fenster zu, durch das eben der erste Strom des vollen Lichtes floß. In diesem roten Glanz verharrte sie solange, bis ein entrücktes Lächeln ihre Züge verklärte, eine Hingenommenheit über sie kam, daß offenbar nichts vor ihrer Seele stand, als ihre geheime Sehnsucht. Diese flüsterte sie bewußtlos ins Licht: »... er rang mit dem Engel, bis die Morgenröte heraufstieg ... wieder vorbei ... aber in Gott sind drei Personen, und das waren erst zwei Nächte... Warum ist mein Glauben so klein! Es ist ja noch der heilige Geist, der mit den linden, weißen Flügeln ... ja, ja; der wird's machen.«
Ich erkannte, daß ihr Glaube geschont werden müsse, um ihr die letzte Hoffnung nicht zu zerstören. Deswegen ließ ich mich neben ihr nieder, die immer noch, ohne mich zu beachten, mit ihrer Sorge redete. Behutsam legte ich meinen Arm um sie und näherte das Gesicht dem ihren, mit einem Kuß den Bann zu brechen, dem sie verfallen war. Obwohl ihre Augen geschlossen blieben, mußte sie meine Absicht gemerkt haben, denn sie wich zurück und sagte plötzlich mit rauher Stimme zu mir: »O ja, ich weiß, daß du ein gutes Herz hast. Deswegen wird mich Gott auch erhören. Für wen bet' ich denn, wie für dich und Vater?«
»Für mich?« fragte ich. »Ja.« antwortete sie. »seit dem bösen Abend weiß ich, daß auch du in ihrer Macht bist.« Ich ahnte, daß sie die Großmutter meinte, wagte aber nicht zu widersprechen, um sie nicht noch mehr zu reizen, sondern sah sie nur lächelnd an und schüttelte den Kopf. Allein ihr Auge bekam doch jenen bohrenden Blick, der so schrecklich wirkte, und um mich zu überzeugen, sprach sie über das geheime Ringen mit dem Gespenst unserer Familie, wie sie mit ihrem Gebet alle Zugänge unseres Hauses verrammelt, die Luft mit ihrem reinen Atem gesättigt und tödlich für böse Geister gemacht habe. Der Hexe mit den unsterblichen Augen seien die Flügel aus dem Rücken, die Zunge aus dem Munde gerissen, in allen Winkeln des Hauses keime ein Segen. Aber nun, da die Teufelin unserer Familie äußerlich nichts mehr anhaben könne, sei sie, zum bösen Geist geworden, auf die List verfallen, uns innerlich zu schaden. Nur die schreckliche Hausdrude habe mich zu der Untat des schweren Abends verstrickt und löse die stolze Seele des Vaters auf. Meine Mutter sprach alles leise, heiß, mit einem Zittern der Angst und des Hasses in der Stimme. Sie war ganz in die heidnischen Grundwasser des Christentums, in den Dämonenglauben untergetaucht und trug im Gesicht die Züge einer Märtyrerin. Nicht dieser Anblick allein, wie eine heilige Seele von unbegrenzter Liebe aus ihren stillen Kreisen gerissen, in Flackern und Zucken umhergetrieben wurde, sondern vor allem die Erkenntnis erschütterte mich, daß meine Mutter eigentlich gegen keinen Wahn, nein, gegen Tatsachen rang. Denn von den Totenhügeln СКАЧАТЬ