Название: Phantomschmerzen
Автор: Susan Hill
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783311701248
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Simon ging hinter ihr ins Haus. Kirsty. Sie hatte sich nicht verändert. Sie war noch immer die große, freundliche, sorglose junge Frau, die er vor sechs Jahren kennengelernt hatte, ein kurzes Techtelmechtel, woraufhin er Douglas’ Kinnhaken hatte einstecken müssen für den Schmerz, den er erlitten hatte. Doch sie war es nicht. Sie war Ehefrau, Mutter, ein tatkräftiges Mitglied der kleinen Gemeinschaft, die zusammenhielt, besonders in den langen, harten Wintermonaten. Kirsty war nicht mehr so frei, ungebunden und sorglos, obwohl sie noch immer freundlich war, noch immer ungezähmtes Haar hatte.
Er wünschte sich nicht, sie Douglas endgültig weggenommen zu haben. Das ganze Jahr über auf Taransay zu leben war nichts für ihn, die Enge und die Weltabgewandtheit der Insel würden ihn verrückt machen. Er wünschte ihnen alles Gute und war froh, dass sie ihre Kinder hier großzogen, die Gegend brauchte all das junge Blut, das sie bekommen konnte. Aber er beneidete sie auch. Ein Zuhause. Miteinander. Der kleine Robbie. Bald ein zweites Kind. Ein beständiges, ruhiges Leben.
Er zog die Stiefel aus, bevor er Kirstys behagliche neue Küche betrat, mit dem Meer vor dem Fenster und dem Herd, der eine wohlige Wärme ausstrahlte. Selbst wenn auf Taransay die Sonne schien, brauchte man noch Öfen und Holzfeuer.
»Ich sitze neben dir, Mr Simon.«
»Ja, Master Robbie, und du achtest auf deine Tischmanieren, und keine frechen Fragen, sonst wanderst du ab ins Bett.«
»Kannst du mit deiner bionischen Hand die Gabel halten?«
»Robbie …«
»Lass mal, Kirsty, schon gut. Ja, kann ich – ich kann viele erstaunliche Sachen damit machen, aber in ein paar Monaten bekomme ich eine noch tollere, und dann werde ich in der Lage sein, Knöpfe anzunähen und mich hinter dem Ohr zu kratzen.«
Die Prothese war vorerst einigermaßen bequem. Simon hatte monatelange Physiotherapie hinter sich, und es würden weitere Sitzungen folgen, sowie Unterweisungen, wie die hochmoderne neue zu benutzen war. Mit der Zeit würde er sich vollständig daran gewöhnt haben, hatte man ihm gesagt. Sie würde fast so vertraut, ihr Gebrauch so instinktiv sein wie der rechte Arm. Fast. Man hatte ihm noch etwas gesagt. »Dabei geht es nicht nur um die Mechanik Ihres Arms«, hatte Alex, der Physiotherapeut gesagt. »Oder um Ihr eigentliches Hirntraining, um mit all den kleinen Unterschieden zwischen Ihrem eigenen Arm und dem hier zurechtzukommen – was am Ende der Fall sein wird. Es geht um mentale Haltung. Akzeptanz.«
»Positives Denken?«
»Eher darum, nicht negativ zu denken. Das wird kommen, Simon.«
Und er wusste, dass der Prozess begonnen hatte. Physisch hatte er gut angefangen. Die psychologische Herausforderung war härter, wie Alex vorausgesehen hatte. Er hatte mit genügend Veteranen, Armlosen, Beinlosen und allen möglichen Kombinationen gearbeitet.
»Der Körper ist willig. Mit dem kann man viel leichter arbeiten als mit dem Verstand, der sich oft verweigert. Und das ist nicht mein Fachgebiet.«
Nur zu gern war Simon bereit gewesen, möglichst viele Stunden mit Alex zu arbeiten. Er hatte trainiert, sich angestrengt, war verwundert über seine Fortschritte. Doch wenn es um seine mentale Einstellung ging, hatte er sich Terminen mit polizeiinternen Beratern und solchen aus dem Reha-Team widersetzt, wohl wissend, dass er damit falschlag.
Sie aßen gegrillten Fisch aus dem Tagesfang, Pommes frites und Bohnen aus Kirstys reichhaltigem Gemüsegarten. Auf den Inseln war nur schwer an frisches Obst und Gemüse heranzukommen, wenn man es nicht selbst anbaute – und das war nicht einfach bei einem kurzen Sommer, schwierigen Bodenverhältnissen und einem fast ständig vom Meer her blasenden Wind.
Robbie wurde sehr still, sobald der Apfelkuchen gegessen und der Orkney-Käse und die Haferplätzchen in Angriff genommen waren. Er rutschte ein Stück auf seinem Stuhl nach unten und regte sich nicht.
»Na schön, junger Mann, ich kenne deine Tricks. Wenn du dich ruhig verhältst, wirst du unsichtbar. Noch zehn Minuten. Simon, möchtest du eine Tasse Kaffee und einen Dram?«
Die zehn Minuten verstrichen, und Kirsty zeigte auf ihren Sohn. Ohne ein Wort zu sagen, stand er auf und kam um den Tisch, um einen letzten faszinierten Blick auf Simons Arm zu werfen.
»Hör zu, Robbie. Komm doch einfach morgen nach der Schule zu mir rüber, dann zeige ich ihn dir richtig, und wie er funktioniert – das ganze Drum und Dran? Wär gut, wenn du es verstehst.«
Der Junge zögerte, dann umarmte er Simon, statt ihm die Hand zu schütteln, seine Berührung kurz und sanft wie die einer Katze, und sauste hinauf ins Bett.
2
Früh am nächsten Morgen, noch immer verkrampft und ausgelaugt von der langen Reise, machte sich Simon auf den Weg über die Insel, stieg die einspurige Straße hinauf, die zu dem Hügel fast in der Mitte führte. Von dort aus verlief die Straße wieder abwärts, und da auf dieser Seite von Taransay nur wenige Menschen lebten, war sie steinig, schmal und vernachlässigt.
Nachdem er vier Meilen in gleichmäßigem Tempo zurückgelegt hatte, ging er wieder bergan bis an die Klippen über dem wilderen Meer. Er schaute hinab und erblickte eine langgestreckte Sandbucht. Basstölpel und Möwen krallten sich ans Felsgestein, stiegen ab und zu auf und landeten dann wieder auf den Felsvorsprüngen. Vor ihm lag nur das Meer, das auf dieser Seite nie ruhig war, nie still. Die großen Brecher rollten einer nach dem anderen heran, schäumten in einer langen weißen Linie an den Strand. Über die Brandung und das Krächzen der Vögel hinweg hätte er seine eigene Stimme nicht gehört. Doch hier war auch niemand, mit dem er hätte sprechen können.
Er setzte sich auf einen Vorsprung und genoss die Aussicht. Der Himmel war milchig, die Luft frisch, aber nicht kalt. Und der Wind wehte. Wie immer hier.
Er wusste nicht, ob er je an einem schöneren Fleck gewesen war – vielleicht nicht. Ihm ging das Herz auf. Er liebte die Einsamkeit, die Wildnis, die ständige Bewegung von Wolken, Meer und Dünengras, das Auf und Ab der Vögel. Wie ihn das alles einsaugte, von seiner Gegenwart jedoch keine Notiz nahm.
Die andere Seite der Insel war sanfter, geschützter, näher am Wasser, obwohl der Wind auch hier heulen und toben konnte und das Meer manchmal so rau war, dass die Boote tagelang im Hafen festsaßen und der Fährbetrieb eingestellt wurde.
Ob er hier leben könnte? Das ganze Jahr über, in dem es monatelang um drei Uhr dunkel wurde, an einem Ort, an dem dunkel schwarz bedeutete? Das ganze Jahr über, in dem man für eine Woche oder länger vom Wetter eingesperrt werden konnte? Die elektronische Kommunikation war inzwischen gut, man konnte ebenso leicht mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen wie alle, die auf dem Festland lebten, doch das bedeutete nur Wörter, schriftlich oder mündlich, die im Cyberspace hin und her flogen, keinen engen menschlichen Kontakt.
Trotzdem, dachte er, schaute hinab, als die Sonne herauskam, auf der Meeresoberfläche funkelte und er die Köpfe von drei Seehunden sah, die nah am Strand auftauchten, trotzdem …
Die Seehunde verschwanden so plötzlich, dass er sich umschaute, um zu sehen, was sie aufgeschreckt hatte. Eine Gestalt wanderte nah am Wasser über den Strand. Eine Frau in Watstiefeln und langem braunen Regenmantel, ein Schal um den Hals verbarg ihre Haare fast vollständig. Sie ging mit großen, gleichmäßigen Schritten, den Blick auf den Sand gerichtet. Kurz darauf bückte sie sich und hob etwas auf, prüfte es und steckte es in die Tasche. Ein Stück weiter wiederholte sie das Ganze.
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